§ 37. Das Kulturproblem.

  • [433] Literatur: ALF. ESPINAS, La philosophie sociale du 18. siecle et la revolution, Paris 1898.
    W. GRAHAM, English political philosophy from Hobbes to Maine, London 1899.

Für die großen Gebilde der menschlichen Lebensgemeinschaft und ihrer geschichtlichen Bewegung war der Aufklärungsphilosophie teils durch ihre Abhängigkeit von der naturwissenschaftlichen Metaphysik teils durch ihre eigene psychologische Richtung der Grundgedanke vorgezeichnet, darin Gesamtprodukte individueller Betätigungen zu sehen, und daraus ergab sich die Neigung, diejenigen Interessen, deren Befriedigung der einzelne von derartigen allgemeineren Zusammenhängen, wie sie einmal bestehen, erwarten kann, in genetischer Erklärung als die Motive und die zureichenden Ursachen für die Entstehung, zugleich aber in kritischer Betrachtung als die Maßstäbe der[433] Wertbeurteilung dieser Gebilde zu behandeln. Was als absichtsvoll von Menschen erzeugt galt, sollte auch zeigen, ob es denn nun diese Absichten erfülle.

1. Diese Auffassung war zunächst durch Hobbes in die politische und juristische Bahn gelenkt worden. Als das Kunstwerk der von ihrer Notdurft bedrängten, im Kampf miteinander um Leben und Gut bangenden Individuen erschien der Staat: er sollte mit seinem ganzem Rechtssystem auf dem Vertrage beruhen, den aus solchen Motiven die Bürger miteinander eingegangen sind. Dieselbe epikureische Vertragstheorie, die schon im Mittelalter wieder auflebte, ging mit dem Nominalismus in die neuere Philosophie über und erstreckte ihre Wirkung über das gesamte 18. Jahrhundert: nicht nur um den Herrschafts- und Unterwerfungsvertrag handelt es sich seit Hobbes dabei, sondern um den konstitutiven Prozeß der Gesellschaftsordnung selber. Aber die künstliche Konstruktion des Absolutismus, welche Hobbes darauf errichtet hatte wich im Gefolge der politischen Ereignisse immer mehr der Lehre von der Volkssouveränetät. Sie hatte ihre Wurzeln in den von dem religiösen Bewußtsein der englischen, französischen und holländischen Reformierten bestimmten Ueberzeugungen; sie lag mit mächtiger praktischer Entfaltung wie der englischen Verfassung von 1688, so der theoretischen Gestaltung zugrunde, die ihr Locke in der Lehre von der Trennung und dem Gleichgewicht der drei Staatsgewalten, der legislativen, exekutiven und föderativen, gab: sie beherrschte als ideale Forderung auch Montesquieus Schriften, der im Hinblick auf die verrottete Rechtsprechung seiner Zeit der richterlichen Gewalt volle Selbständigkeit gegeben wissen wollte, während er die exekutive und föderative (als Verwaltung nach innen und außen) in der Einen monarchischen Spitze vereinigt dachte: sie wurde endlich zum vollen Demokratismus in Rousseaus Contrat social durchgeführt, wonach das Prinzip der Uebertragung und der Repräsentation so viel wie möglich eingeschränkt und auch die Ausübung der Souveränetät direkt der gesamten Volksmasse zuerkannt werden sollte.889 Bei allen diesen Umbildungen der Hobbesschen Doktrin liegt (wie schon in der von Spinoza890 nach aristokratisch-republikanischer Richtung vorgeschlagenen) der Einfluß der historisch-politischen Realitäten auf der Hand; aber der Gegensatz zwischen Hobbes und Rousseau läßt sich dabei doch auch auf einen rein theoretischen Hintergrund bringen. Gilt der Mensch als von Natur wesentlich egoistisch, so muß er durch die übergreifende Staatsmacht zur Einhaltung des geselligen Vertrages gezwungen werden: gilt er für ursprünglich gut und sozial fühlend, wie bei Rousseau, so ist von ihm zu erwarten, daß er sich an der Ausführung des Vertragslebens von selbst immer im Interesse des Ganzen beteiligt.

Interessant ist es nun, daß die Vertragstheorie im 18. Jahrhundert sich auch denjenigen rechtsphilosophischen Lehren mitteilte, welche nicht bloß psychologische Grundlagen hatten. Auch das »Naturrecht« dieser Zeit geht vom Rechte des Individuums aus und sucht erst daraus das Rechtsverhältnis der Individuen abzuleiten. Doch zeigen sich bei der Ausführung dieses Prinzips in der deutschen Philosophie zwei verschiedene Richtungen, die zu höchst[434] charakteristisch verschiedenen Resultaten führten. Wenn Leibniz in antiker Weise die Rechtsbegriffe aus den allgemeinsten Bestimmungen der praktischen Philosophie abgeleitet hatte891, so folgte ihm Wolff auch darin, machte aber deshalb zum Zwecke des Staatsvertrages die gegenseitige Förderung der Individuen behufs ihrer Vervollkommung, ihrer Aufklärung und ihrer Glückseligkeit: nach ihm hat darum der Staat nicht bloß für die äußere Sicherheit, sondern auch für die allgemeine Wohlfahrt in breitester Ausdehnung zu sorgen. Die Konsequenz davon ist die, daß Wolff dem Staat das Recht und die Pflicht zuspricht, die große Masse der unaufgeklärten, von Irrtum und Leidenschaft beherrschten Menschen gründlich zu bevormunden und bis tief in ihre Privatverhältnisse erzieherisch sich einzumischen: so hat Wolff die Theorie für jenen »väterlichen« Despotismus des wohlwollenden Polizeistaates geliefert, den die Deutschen seiner Zeit mit sehr gemischten Gefühlen besaßen.

Das genau entgegengesetzte Resultat knüpfte sich theoretisch an die Ablösung der Rechtsphilosophie von der Moral, wie sie schon Thomasius mit seiner scharfen Scheidung des justum und des honestum angebahnt hatte. In dieser Richtung behauptete dessen Schüler Gundling (1671-1729), das Recht sei lediglich als Ordnung der äußeren Beziehungen der Individuen zu behandeln, es habe die Erhaltung des äußeren Friedens zum Zweck, seine Bestimmungen seien deshalb nur äußerlich erzwingbar. Diese Beschränkung der Tätigkeit des Staats auf den äußeren Rechtsschutz entsprach dem individualistischen Sinne der Aufklärung offenbar am meisten. Wenn das Individuum sich zum Staatsvertrage nur aus Not und Bedürfnis bequemt hat, so wird es dem Staate so wellig wie möglich Konzessionen zu machen geneigt sein und ihm von seinen ursprünglichen »Rechten« nur so viel opfern wollen, wie für den Zweck, den er erfüllen soll, unbedingt erforderlich ist. So dachte nicht nur der Spießbürger, der zwar, wenn's irgendwo fehlt, gleich bereit ist nach der Polizei zu rufen, in der Stille aber die Rechtsordnung doch als einen Feind ansieht, den man sich möglichst vom Halse halten muß; sondern so fühlte auch der geistig hoch entwickelte Aufklärer, der für sein reiches Innenleben nur das Interesse hatte, unbehelligt sich den Genüssen der Kunst und der Wissenschaft widmen zu können. In der Tat mußte die ideallose Wirklichkeit der deutschen Kleinstaaterei die Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Leben erzeugen, welche so auch theoretisch ihren Ausdruck fand. Der tiefste Stand, den in dieser Hinsicht die Wertschätzung des Staates gerade bei den Gebildeten erreicht hat, wird durch Wilhelm von Humboldts »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«892 wohl am besten gekennzeichnet: hier wird jedes höhere Interesse des Menschen sorgfältig aus dem staatlichen Machtbereich ausgeschlossen und die Aufgabe der öffentlichen Gewalt nur auf den niederen Dienst beschränkt, Leib und Eigentum des Bürgers zu schützen.

2. Blieb in dieser Hinsicht die deutsche Philosophie der politischen Wirklichkeit gegenüber immerhin recht zahm, so kam anderseits doch auch in ihr die allgemeine Tendenz der Aufklärung zutage, das Leben der Gesellschaft wie des einzelnen nach den Grundsätzen der Weltweisheit nicht nur zu beurteilen,[435] sondern auch einzurichten. Wenn es dieser Zeit zum Ruhme gereicht, daß sie mit manchem historischen Gerümpel, das sich im Haushalt der europäischen Völker angehäuft hatte, glücklich aufgeräumt hat, so gebührt daran den Thomasius und Wolff, den Mendelssohn und Nicolai gewiß auch ihr Anteil (vgl. § 36, 5). Allein ungleich kräftiger und wirksamer ist diese Seite der Sache bei den französischen Aufklärern hervorgetreten. Es genügt hier schon an Voltaire zu erinnern, der als eine literarische Macht ersten Ranges unermüdlich und siegreich für Vernunft und Gerechtigkeit eingetreten ist. Aber den Kampf, den er gewissermaßen vor den Schranken der öffentlichen Meinung von ganz Europa führte, nahmen seine Landsgenossen im einzelnen durch die Kritik der Einrichtungen und die Vorschläge zu ihrer Verbesserung auf: in breiter, vielfach leidenschaftlicher Diskussion geht die! philosophische Ueberlegung daran, den Staat zu reformieren. Und hier kommt sogleich neben der Stärke der Aufklärung ihre Schwäche zutage. Aus der allgemeinen, ewigen Natur des Menschen oder der Dinge entnimmt sie, wie auch immer, die Maßstäbe ihrer Kritik des Bestehenden und ihrer Anforderung an dessen Veränderung; damit verliert sie die Berechtigung und die Lebenskraft des historisch Wirklichen aus den Augen, und sie glaubt, man brauche nur mit dem Bestehenden, wo es sich als vernunftwidrig erweist, tabula rasa zu machen, um die Gesellschaft ex integro nach den Prinzipien der Philosophie aufbauen zu können. In diesem Sinne hat die Aufklärungsliteratur, zumal in Frankreich, den wirklichen Bruch mit der Geschichte, – die Revolution vorbereitet. Typisch war darin der Vorgang des Deismus, der, weil vor seiner »rationalen« Kritik keine der positiven Religionen bestand, sie alle aufheben und an ihre Stelle die Naturreligion setzen wollte.

So versuchte denn auch die französische Revolution den abstrakten Naturstaat der »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«, die »Verwirklichung der Menschenrechte« nach dem praktischen Vorgange der amerikanischen Freistaaten und dem Wesen der Sache nach im Geiste von Rousseaus Contrat social893 zu dekretieren: und zahlreiche Federn recht mittelmäßiger Qualität beeilten sich, dieses Geschäft zu rechtfertigen und zu glorifizieren.894 Es ist meist ein flacher Epikureismus. der auf der Grundlage des Condillacschen Positivismus das große Wort führt. So sucht Volney mit dem Systeme de la nature die Quelle aller gesellschaftlichen Uebel in der Unwissenheit und der Begehrlichkeit des Menschen, dessen Vervollkommnungsfähigkeit bisher durch die Religionen aufgehalten sei. Wenn mit diesen erst alle »Illusionen« verscheucht sein werden, dann wird die neu organisierte Gesellschaft zur obersten Richtschnur haben, daß »gut« nur ist, was »den« Menschen fordert, und der Katechismus für den Bürger faßt sich in die Regel zusammen »Conserve toi – instruis toi – modère toi – ris pour tes semblables afin qu'ils vivent pour toi!«895 Noch materialistischer erscheint die Theorie der Revolution bei St. Lambert, von dem die in der späteren Literatur viel besprochene Definition stammt: »L'homme est une masse organisée et sensible; il reçoit l'intelligence de ce qui l'environne et de ses besoins«.896 Mit oberflächlichster Geschichtsbetrachtung[436] feiert er die Revolution als den endlichen Sieg der Vernunft in der Geschichte: und dabei deduzierte dieser Epikureer, daß die demokratischen Anfänge dieses großen Ereignisses sich im Cäsarentum vollenden werden! Das Aeußerste an selbstgefälliger Ueberhebung hat in dieser Hinsicht der parlamentarische Dilettantismus bei Garat geleistet.897

Außerordentlich günstig sticht gegen diese phrasenhaften Allgemeinheiten und die Deklamationen über Volkswohl und Vernunftherrschaft die ernste Sachlichkeit ab, mit welcher Bentham das utilistische Prinzip für die Gesetzgebung brauchbar zu machen suchte, indem er die quantitative Bestimmung der Lust- und Unlustwerte (vgl. § 36, 9) auf die Zweckerwägungen der einzelnen gesetzlichen Maßregeln unter sorgfältiger Berücksichtigung der jedesmal vorliegenden Verhältnisse anzuwenden lehrte.898 Gerade darin betätigte er die Einsicht, daß es sich in der staatlichen Bewegung nicht nur um politische Rechte, sondern vor allem um soziale Interessen handelt: und nach eben dieser Richtung erstand nicht ohne Einfluß Benthams der Revolution ein begeisterter und erfolgreicher Kämpe in dem extremen Individualisten Godwin.899 Aber auch sonst kündigt sich in der Revolutionsliteratur wie mit dumpfem, noch fern verhallendem Donner der soziale Sturm all. Immer umfangreicher und immer selbständiger auf empirische Prinzipien gegründet wurden die Untersuchungen über nationalökonomische Probleme, welche in Frankreich hauptsächlich durch die physiokratische Schule gefördert wurden: während aber die Theorie überall vom Staate vor allem die Sicherung des Besitzes verlangte, erhob sich aus der Tiefe der Gesellschaft die Frage nach dem Rechte des persönlichen Eigentums, und während von den Philosophen immer zwiespältiger das Problem erwogen wurde, wie mit den Interessen des Individuums diejenigen der Gesamtheit vereinbar seien (vgl. unten), kam der Gedanke zum Durchbruch, daß in dem Streben nach individuellem Besitz der Grund aller Uebel des Menschengeschlechts liege und daß erst mit dem Verzicht auf diese Ursünde eine gesellschaftliche Moral und eine moralische Gesellschaft beginne. Solche kommunistischen Ideen warfen Mably und Morelly in die Welt, und ein Baboeuf machte unter dem Direktorium zu ihrer Realisierung den ersten verfehlten Verschwörungsversuch.

3. Die soziale Frage hatte aber von ihrem tiefsten Grunde her schon früher ihre Wellen geworfen. Der Klassengegensatz von üppigem Reichtum und elendester Armut, welchem unter den Ursachen der Revolution eine so große Bedeutung zukam, mochte zwar zunächst fühlbarer und wirksamer sein:[437] aber seine ganze Schärfe erhält er erst vermöge des damit durch die ganze Entwicklung des europäischen Lebens verketteten Gegensatzes von Bildung und Unbildung, und gerade dieser war in dem Aufklärungszeitalter am tiefsten und schroffsten aufgeklafft. Je mehr es sich seiner Kultur rühmte, um so deutlicher wurde, daß diese in der Hauptsache ein Privilegium der besitzenden Klasse ist. Auch hierin ist mit typischer Offenheit der englische Deismus vorangegangen. Die Vernunftreligion sollte für den gebildeten Mann ebenso reserviert sein wie die freie schöne Sittlichkeit: für den gemeinen Mann dagegen, meinte Shaftesbury, müssen die Verheißungen und Drohungen der positiven Religion bestehen bleiben wie Rad und Galgen. Auch Toland hatte seinen kosmopolitischen Naturkultus als »esoterische« Lehre vorgetragen, und als die späteren Deisten in populären Schriften diese Vorstellungen in das Volk zu tragen begannen, erklärte sie Lord Bolingbroke, selbst ein Freidenker ausgesprochenster Art, für eine Pest der Gesellschaft, gegen welche die schärfsten Mittel die besten wären. Auch unter den deutschen Deisten wollten Männer wie Semler sehr sorgfältig zwischen der Religion als Privatsache und der Religion als öffentlicher Einrichtung geschieden wissen.

Die französische Aufklärung war, wie das Verhältnis Voltaires zu Bolingbroke zeigt, von Anfang an entschieden demokratischer: ja, sie hatte die agitatorische Tendenz, die Aufklärung der Massen gegen die exklusive Selbstsucht der oberen Zehntausend auszuspielen. Damit aber vollzog sich ein Umschwung, vermöge dessen die Aufklärung sich notwendig gegen sich selber kehrte. Denn wenn die »Kultur« in denjenigen Schichten, welche sie zunächst ergriff, derartige Folgen gehabt hatte, wie sie in dem Lebensgenuß der »höheren« Klassen zutage traten, wenn sie so wenig vermocht hatte, auch für die Bedürfnisse der Masse brauchbare Früchte abzuwerfen, so mußte ihr Wert um so zweifelhafter erscheinen, je mehr die Philosophie »das größte Glück der größten Anzahl« als Maßstab für die Beurteilung der Dinge und der Handlungen oder Gesinnungen betrachtete.

In diesem Zusammenhange hat sich das Kulturproblem der modernen Philosophie herausgebildet: die Frage, ob und wieweit die Zivilisation, d.h. die intellektuelle Vervollkommnung (welche eine historische Tatsache ist) und die damit zusammenhängende Veränderung des menschlichen Triebsystems und der menschlichen Lebensverhältnisse, – ob und inwieweit diese Kultur zur Förderung der Sittlichkeit und der wahren Glückseligkeit des Menschen gedient habe. Je stolzer und selbstgefälliger der Durchschnittsaufklärer die Fortschritte des Menschengeistes pries, die bei ihm selber ihren Höhepunkt klaren und deutlichen Vernunftlebens in Theorie und Praxis erreicht haben sollten, um so brennender und um so – unbequemer wurde diese Frage.

Sie regt sich zuerst, obwohl in schiefer Stellung, bei Mandeville. In der Psychologie ein extremer Anhänger des selfish system, suchte dieser gegen Shaftesbury zu zeigen, daß die ganze reizvolle Lebendigkeit des gesellschaftlichen Systems nur auf dem Interessenkampf der selbstsüchtigen Individuen beruht, – ein Prinzip, das auch auf Adam Smith bei seiner Lehre von Angebot und Nachfrage gewirkt hat.900 Dächte man sich (das ist der Sinn der Bienenfabel) den Menschen aller egoistischen Triebe ledig und nur noch mit[438] den »moralischen« Eigenschaften des Altruismus ausgestattet, so stünde vor lauter Selbstlosigkeit der soziale Mechanismus still. Die treibende Kraft in der Zivilisation ist nur der Egoismus, und darum darf man sich auch nicht wundern, wenn die Kultur sich nicht durch Erhöhung der sittlichen Qualitäten, sondern eben nur durch eine Verfeinerung und Verhüllung des Egoismus betätigt. Ebensowenig aber wie die Moralität wird die Glückseligkeit des Individuums durch die Zivilisation gesteigert. Geschähe es, so würde damit der Egoismus geschwächt, auf dem ja ihr Fortschritt beruht. In Wahrheit zeigt sich vielmehr, daß jede durch die intellektuelle Steigerung herbeigeführte Verbesserung des materiellen Zustandes in dem Individuum neue und stärkere Bedürfnisse hervorruft, infolge deren es immer unbefriedigter wird, und so erweist sich, daß die scheinbar so glänzende Entwicklung des Ganzen sich nur vollzieht auf Kosten der Moralität und der Glückseligkeit des Einzelnen.

4. Bei Mandeville erscheinen diese Gedanken einerseits erst in leiser Andeutung, anderseits in einer Form, welche als Empfehlung des Egoismus aufgefaßt werden konnte, dessen »private vices public benefits« seien: zu einer Bedeutung für die Weltliteratur sind sie durch die glänzende Wendung gelangt, die ihnen Rousseau gab. Bei ihm betraf die Frage nicht mehr und nicht weniger als den Wert der gesamten menschlichen Geschichte, ihren Wert für die Sittlichkeit und das Glück der Individuen. Und er schleuderte der Aufklärung die Schmach ins Gesicht, daß all das Wachsen des Wissens und all die Verfeinerung des Lebens den Menschen seiner wahren Bestimmung und seinem wahren Wesen nur immer mehr untreu gemacht habe. Gerade in der rein verstandesmäßigen Aufklärung, welche die Stimme des natürlichen Gefühls überhört und erstickt hat und deshalb zu ihrem Atheismus und ihrer egoistischen Moral gekommen ist, sieht Rousseau den schlimmsten Schaden der Zeit und die traurigste Verirrung der Menschheit. Die Geschichte mit ihrem künstlichen Aufbau der zivilisierten Gesellschaft hat den Menschen verschlechtert901: gut und rein ist er aus der Hand der Natur hervorgegangen, aber seine Entwicklung hat ihn von Schritt zu Schritt der Natur entfremdet. Den Anfang zu dieser »Degeneration« fand Rousseau – nach dem zweiten Discoars – in der Schaffung des Eigentums, welche die Teilung der Arbeit und damit die Sonderung der Stände, schließlich die Erweckung aller bösen Leidenschaften zur Folge hatte: dies war es, was die Arbeit des Intellekts dauernd in den Dienst der Selbstsucht stellte.

Dieser Unnatur der zivilisierten Barbarei gegenüber erscheint zunächst der Naturzustand als das verlorene Paradies, und in diesem Sinne fand die sentimentale Sehnsucht einer intellektuell und moralisch blasierten Zeit ihre Nahrung in Rousseaus Schriften, vor allem in der »Neuen Heloise«. Die Damen der Salons schwärmten für das Geßnersche Schäferidyll: aber sie überhörten deshalb den Mahnruf des großen Genfers.

Denn nicht zu jenem gesellschaftslosen Naturzustande wollte er zurückführen. Er war überzeugt, daß der Mensch von seinem Schöpfer mit einer Vervollkommnungsfähigkeit (perfectibilité) ausgerüstet sei, die ihm die Ausbildung der natürlichen Anlage wie zur Pflicht so zur natürlichen Notwendigkeit[439] mache. Wenn diese Entwicklung durch den bisherigen historischen Prozeß in falsche Wege geleitet worden ist und deshalb zur Entsittlichlichung und zum Elend geführt hat, so muß die Geschichte eben von neuem begonnen werden, so muß der Mensch von der Unnatur des intellektuellen Hochmuts zu dem einfachen natürlichen Gefühle, aus der Verschränktheit und Verlogenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu seinem, reinen, unverkümmerten Selbst zurückkehren, um den rechten Weg seiner Entwicklung zu finden. Dazu bedarf nach Rousseau die Menschheit im ganzen einer Staatsverfassung, die nach dem Prinzip der rechtlichen Gleichheit dem Einzelnen die volle Freiheit seiner persönlichen Betätigung, am Gesamtleben gewährleistet, und im einzelnen einer Erziehung902, welche die natürlichen Anlagen des Individuums sich zwanglos aus eigener Lebendigkeit entfalten läßt. Der Optimismus, den Rousseau in der Auffassung von dem natürlichen, gottentstammten Wesen des Menschen geltend macht, läßt ihn hoffen, daß es um unser Leben um so besser bestellt sein wird, je freier und natürlicher wir uns entwickeln können.

5. Finden wir so Rousseau im lebhaften Gegensatz gegen die historische Entwicklung und im eifrigen Bestreben, an deren Stelle eine neue, »naturgemäße« zu setzen, so ist die letzte, versöhnende Synthese der Aufklärungsideen das Bestreben, den bisherigen Verlauf der menschlichen Geschichte selbst als die natürliche Entwicklung des menschlichen Wesens zu begreifen: in diesem Gedanken streift die Philosophie des 18. Jahrhunderts alle ihre Einseitigkeiten von sich ab und gewinnt ihre höchste Vollendung. Die erste Regung davon beginnt sogar mit einer prinzipiellen und tiefgehenden Opposition gegen die naturwissenschaftliche Verstandesaufklärung: sie spricht sich in unklarer und phantastischer Weise bei einer einsamen Größe der italienischen Literatur aus, bei Vico.903 Er wendet sich von Anfang an gegen den Mathematicismus von Descartes und bevorzugt ihm gegenüber das empirische Denken von Campanella und Bacon. Aber er hat überhaupt kein Vertrauen in die Naturwissenschaft. Nach dem Prinzip, daß man nur erkennen kann, was man selber schafft, ist die Erkenntnis der Natur nur für Gott möglich, und an seiner Weisheit[440] (sapienza) hat der Mensch nur ein schwaches Mitwissen (coscienza). Die mathematischen Formen, die der Mensch allerdings selbst erzeugt, sind nur Abstraktionen und Fiktionen, die das wahre Wesen, die lebendige Realität der Natur nicht erfassen. Was der Mensch wirklich macht, ist seine Geschichte, und diese kann er daher auch verstehen. Den letzten Grund dieses Verständnisses bildet das Wissen des Menschen von seinem geistigen Wesen, und dessen Gesetzmäßigkeit ist es, die in dem Prozeß der Geschichte sich in einer überall gleichmäßigen Weise darstellen muß. Diese Voraussetzung soll die empirische Geschichtsforschung bestätigen, indem sie induktiv eine bei allen Nationen sich wiederholende Reihenfolge ihrer öffentlichen Zustände nachweist. Besonders kommt es Vico dabei auf die Entwicklung an, mit der sich die Kultur aus primitiven Zuständen herausarbeitet und schließlich durch ihre Uebertreibung in schlimmere Barbarei zurückfällt. Als typischer Vorgang gilt dabei überall die römische Geschichte. Mit der fast schon romantischen Vorliebe für die poetischen Anfänge des geschichtlichen Lebens verbindet Vico eine große Feinheit ihrer Analyse. Aber mit der Auffassung eines sich wiederholenden Entwicklungsgangs der verschiedenen Völker verschloß der einsame Grübler sich den Blick auf die Einheit des historischen Prozesses der Menschheit: er verbarg sich diese noch mehr durch die prinzipielle Scheidung zwischen der »profanen« Geschichte und der »heiligen«, für die der fromme Mann ein durchaus antirationalistisches Interesse bewährte.

Auch auf dem religiösen Gebiete aber war deshalb Vico der Gedanke an ein planvolles Ineinandergreifen der Völkergeschicke fremd geblieben. Dieser Gedanke dagegen hatte vorher in Bossuet904 eine um so kräftigere Vertretung gefunden. Der französische Prälat führte die patristische Geschichtsphilosophie, welche die Erlösung in den Mittelpunkt des Weltgeschehens gerückt hatte (vgl. oben § 21) in der Weise fort, daß er die Christianisierung der modernen Völker durch das Weltreich Karls des Großen als die abschließende und entscheidende Epoche der Universalgeschichte betrachtet wissen wollte, deren ganzer Verlauf das Werk göttlicher Vorsehung und deren Ziel die Herrschaft der Einen, katholischen Kirche sei. Solche theologische Welt- und Geschichtsauffassung hatte nun freilich die neuere Philosophie energisch abgewiesen; aber wie mager der Ertrag ihrer individualpsychologischen Behandlung des menschlichen Gemeinlebens für die Betrachtung der Geschichte ausfiel, sieht man trotz der Anlehnung an Rousseau bei den trivialen Darstellungen von Iselin905.

Erst in einem Geiste von Herders universeller Empfänglichkeit und Feinfühligkeit fielen Rousseaus Ideen auch nach dieser Hinsicht auf fruchtbaren Boden. Aber sein an Leibniz und Shaftesbury großgezogener Optimismus ließ ihn nicht an die Möglichkeit jener Abirrung glauben, als welche der Genfer die bisherige Geschichte auffassen wollte. Er war vielmehr in der Zeit seiner philosophischen Reife überzeugt, daß die naturgemäße Entwicklung des[441] Menschen eben die sei, welche sich in der Geschichte vollzogen hat. Wenn Rousseaus Begriff der Perfektibilität des Menschen von dessen französischen Anhängern wie St. Lambert und namentlich Condorcet als Gewähr einer besseren Zukunft und als eine unendliche Perspektive auf die Vervollkommnung der Gattung behandelt wurde, so benutzte ihn Herder – gegen Rousseau – auch als Erklärungsprinzip für die Vergangenheit des menschlichen Geschlechts. Die Geschichte ist nichts als die ununterbrochene Fortsetzung der natürlichen Entwicklung. Freilich wurden damit die Prinzipien naturwissenschaftlicher und historischer Forschung und namentlich die Gegensätze mechanischer und teleologischer Betrachtung in einer Weise verwischt, welche den Widerspruch eines so scharf methodischen Denkers, wie Kant es war, notwendig hervorrufen mußte906; aber es war doch anderseits für die Weltanschauung ganz im Sinne der Leibnizschen Monadologie ein harmonisierender Schlußgedanke gewonnen, der als ein packendes Postulat, als eine regulative Idee für die weitere Entwicklung der Philosophie unverloren geblieben ist.

Das neue Prinzip traf vor allem den Anfang der Geschichte. Nicht als willkürlicher Akt sei es menschlicher uberlegung oder göttlicher Bestimmung, sondern als ein allmählich gestaltetes Ergebnis des natürlichen Zusammenhangs ist der Beginn des gesellschaftlichen Lebens zu verstehen. Er ist weder erfunden noch geboten, sondern geworden. In charakteristischer Weise kamen diese geschichtsphilosophischen Gegensätze am frühesten bei der Auffassung der Sprache zur Geltung: der associationspsychologische Individualismus sah in ihr, wie es besonders bei Condillac907 zutage tritt, eine Erfindung des Menschen, – der Supranaturalismus, in Deutschland durch Süßmilch908 vertreten, eine göttliche Eingebung: hier hatte schon Rousseau das erlösende Wort gesprochen, wenn er in der Sprache eine natürliche, unwillkürliche Entfaltung des menschlichen Wesens gesehen hatte.909

Herder machte sich nicht nur diese Auffassung schon früh zu eigen (vgl. Oben § 33, 11), sondern er dehnte sie später auch konsequenter Weise auf alle Kulturtätigkeiten des Menschen aus. Er geht daher in seiner Philosophie der Geschichte von der Stellung des Menschen in der Natur, von den Lebensbedingungen, die ihm der Planet gewährt, und seiner eigentümlichen Anlage aus, um die Anfänge und die Richtung seiner geschichtlichen Entwicklung daraus zu begreifen: und er läßt ebenso im Fortgang der universalhistorischen Darstellung die Eigenart eines jeden Volkes und seiner geschichtlichen Bedeutung aus seinen natürlichen Anlagen und Verhältnissen hervorgehen. Allein dabei fallen ihm die Entwicklungen der verschiedenen Nationen nicht auseinander, wie das noch bei Vico geschah: sondern sie alle reihen sich als eine große Kette aufsteigender Vervollkommnung organisch aneinander. Und sie alle bilden in diesem Zusammenhange die immer reifere Verwirklichung der allgemeinen Anlage des menschlichen Wesens. Wie der Mensch selbst die Krone der Schöpfung, so ist seine Geschichte die Entfaltung der Menschlichkeit.[442] Die Idee der Humanität erklärt die verwickelte Bewegung der Völkergeschicke.

In dieser Betrachtung war die unhistorische Denkart der Aufklärung überwunden: jede Gestalt dieses großen Entwicklungsganges wurde als das natürliche Produkt ihrer Bedingungen gewürdigt, und die Leistungen und Entwicklungen der einzelnen Völker vereinigten sich zur Harmonie der Weltgeschichte, deren Thema die Humanität ist. Und daraus entsprang – wie es Herder in den »Briefen zur Beförderung der Humanität« nach verschiedenen Richtungen glücklich vorzeichnete – auch die Aufgabe der Zukunft: immer reicher und voller alle Regungen der menschlichen Natur zur Entfaltung zu bringen, die reifen Erträge der geschichtlichen Entwicklung zu lebendiger Einheit zu verwirklichen. Im Bewußtsein dieser Aufgabe der »Weltliteratur« durfte, fern von allem Hochmut des niederen Aufklärens, voll von der Ahnung einer neuen Epoche, Schiller dem »philosophischen Jahrhundert« das frohe Wort nachrufen:


»Wie schön, o Mensch mit deinem Palmenzweige

Stehst du an des Jahrhunderts Neige

In edler, stolzer Männlichkeit!«[443]

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 433-444.
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