Max Weber

Bemerkungen zum Bericht der Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges1

I. Notwendigkeit unparteiischer Untersuchung

Die Unterzeichneten sind der Ansicht, daß die Frage der Verantwortlichkeit am Kriegsausbruch nicht von einer Seite, die selbst Partei ist, entschieden werden kann, sondern daß nur eine von beiden Seiten als unparteiisch anerkannte Untersuchungskommission, der alle Archive zugänglich sind und vor der beide Parteien gleichmäßig zu Worte kommen, den Versuch wagen kann, ein Urteil darüber zu fällen, welches Maß von Verantwortung jeder einzelnen Regierung daran zufällt, daß die von allen Völkern gefürchtete Katastrophe über die Menschheit hereingebrochen ist.

Von den vielen völlig unhaltbaren Ansichten, die in dem Bericht[571] der Kommission der Alliierten und Assoziierten Regierungen ausgesprochen sind, werden die auf rein militärische Fragen sich beziehenden Punkte in den Anlagen II-III behandelt. Auf die politischen Fragen soll im nachstehenden in tunlichster Kürze eingegangen werden.


II. Die diplomatischen Verhandlungen

Einleitend muß bemerkt werden, daß von einer erdrückenden Überlegenheit des deutschen Heeres in keiner Weise gesprochen werden kann. Unanfechtbare Zahlen beweisen, daß, von Landsturm und gleichwertigen Formationen abgesehen, Deutschland und Österreich-Ungarn bei 116000000 Einwohnern nicht ganz 6000000 Streiter, Rußland und Frankreich aber bei einer Volkszahl von 210000000 reichlich 9000000 ins Feld stellen konnten. Eine erdrückende Überlegenheit war vorhanden, aber nicht auf deutscher Seite.

Wegen der dem General von MOLTKE irrigerweise zugeschobenen Äußerung wird auf dessen Schreiben in Anlage IV verwiesen. Die jedem Krieg abholde Gesinnung des Generals kann der mitunterzeichnete Graf MONTGELAS, der zwei Jahre lang dessen unmittelbarer Untergebener war, durch ganz bestimmte Tatsachen erhärten. Seine skeptische Auffassung über den Ausgang eines Weltkrieges steht aktenmäßig fest.

Die tieferen Ursachen des serbisch-österreichischen Konflikts, die den Bestand des österreichisch-ungarischen Staates gefährdenden großserbischen Bestrebungen einerseits, die handelspolitische Bedrückung des serbischen Volkes andererseits können hier nicht erschöpfend erörtert werden. Auf das bestimmteste aber muß der Auffassung entgegengetreten werden, daß zwischen Berlin und Wien ein geheimes Komplott zur Vernichtung Serbiens geschmiedet worden sei. Offen hat die deutsche Regierung in der am 3. August 1914 dem Reichstage vorgelegten Denkschrift ausgesprochen, daß sie der nach dem Attentat von Sarajewo in Wien gehegten Auffassung zugestimmt und eine dort für nötig erachtete Aktion gebilligt habe. Die Ziele dieser Aktion waren in Berlin im einzelnen nicht mitgeteilt, waren aber genau umgrenzt und enthielten keinerlei Annexionsgedanken; von Graf TISZA ist bekannt, daß er seine Zustimmung zum Ultimatum ausdrücklich von einem solchen Verzicht abhängig gemacht hat.

[572] Diesem Tatbestand haben die späteren in dem Kommissionsbericht angeführten angeblichen Enthüllungen EISNERS und anderer, soweit sie nicht Unrichtiges enthalten, Neues nicht hinzugefügt. Auch der Anfang Juli 1914 stattgehabte Briefwechsel zwischen den beiden Kaisern und deren Regierungen ist inzwischen in vollem Wortlaut veröffentlicht. Ein Kronrat hat am 5. Juli nicht stattgefunden. Der Kommissionsbericht spricht nur noch unbestimmt von entscheidenden Beratungen. Worauf diese sich in Wahrheit bezogen haben, ergibt Anlage V. Die Nordlandreise des Kaisers wurde zu dem alljährlich üblichen Zeitpunkt angetreten, der preußische Kriegsminister hat seinen Urlaub schon am 2. Juli erbeten; beiläufig sei bemerkt, daß der von der Kommission erwähnte bayerische Bericht vom 18. Juli, der mehrere schon öffentlich berichtigte Irrtümer aufweist, nicht vom Gesandten Grafen LERCHENFELD, sondern vom Legationsrat von SCHOEN herrührt. Völlig unbegründet ist ferner nach Ausweis der deutschen Akten die Behauptung, daß damals Bulgarien zum Kriege gegen Serbien veranlaßt werden sollte.

Es ist richtig, daß Österreich die Auffassung hatte, angesichts früherer nicht gehaltener Versprechungen Serbiens sich mit bloß diplomatischen Ergebnissen nicht begnügen zu können, sondern auf dem Eindruck einer militärischen Expedition bestehen zu müssen. Deutschland hat dieser Auffassung zugestimmt und Österreich dabei ermutigt.

Heute sehnt sich die Welt nach einem Völkerbunde, in dem militärische Maßregeln nicht mehr zulässig sind und in dem alle Nationen, ob groß oder klein, ob stark oder schwach, die gleichen politischen und wirtschaftlichen Rechte genießen. Mit dem damals auch von anderen Staaten angewendeten Verfahren stand zwar das Vorgehen gegen Serbien nicht im Widerspruch und war im guten Glauben als eine Maßregel gedacht, um einen seit langem die Gefahr eines Weltkrieges in sich bergenden Konfliktsstoff zu beseitigen. Immerhin empfand 1914 die deutsche Regierung selbst das Ultimatum als zu weitgehend (Blaubuch Nr. 18). Eine besondere Härte lag nach Ansicht der Unterzeichneten in der kurzen, auch auf spätere Vorstellungen hin nicht verlängerten 48stündigen Frist.

Auch den entgegenkommenden Charakter der serbischen Antwort hat die deutsche Regierung in ihrer unten besprochenen Note vom 28. Juli (Wolffs Telegramm vom 12. Oktober 1917) selbst anerkannt. Eine schiedsgerichtliche Regelung der nach dieser Antwort[573] noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten hätte besser jenem Geiste des Vertrauens entsprochen, auf den Sir EDWARD GREY am 30. Juli hinwies (Blaubuch Nr. 101), einem Geiste, welcher hoffentlich künftig die Beziehungen der Völker und ihrer Regierungen leiten wird. Voraussetzung für jenes für alles andere entscheidende Vertrauen wäre natürlich der Glaube gewesen, daß der englische Außenminister nicht nur den von Augenblickserwägungen unabhängigen Willen, sondern auch die Macht hatte, die unzweifelhaften russischen Kriegsabsichten im Zaum zu halten. Daran zweifelt, soweit der gute Wille Sir EDWARD GREYS in Betracht kommt, von den unterzeichneten niemand mehr. Zu fragen ist nur, ob dieser gute Wille auch in einer Art zum Ausdruck gelangte und, angesichts des die gesamte Lage umstürzenden Verhaltens Rußlands, rechtzeitig gelangen konnte, um der deutschen Regierung jenes Vertrauen zu geben. Denn wie sehr das zaristische Rußland jeden modernen Anschauungen fernstand, beweisen die anliegenden bisher noch nicht vollständig veröffentlichten russisch-serbischen Aktenstücke (Anlage VI).

Die Berliner Regierung hat in dem Bestreben, den Streit zwischen Serbien und Österreich auch diplomatisch zu lokalisieren, anfänglich zu den insbesondere von englischer Seite gemachten Vermittlungsvorschlägen sich ablehnend verhalten; sie glaubte, daß auf diesem Wege eine Beseitigung der ständigen Bedrohung des Weltfriedens nicht zu erreichen sei. In dem Kommissionsbericht ist jedoch erstaunlicherweise nicht erwähnt, daß der direkte Gedankenaustausch zwischen Wien und Petersburg von deutscher Seite angeregt wurde, und daß Sir EDWARD GREY selbst dieses Verfahren als das zweckmäßigste (the most preferable method of all) anerkannt hat (Blaubuch Nr. 67). Ein schwer begreiflicher Irrtum ist es ferner, wenn aus Blaubuch Nr. 43 eine Ablehnung der Vermittlung zu Vieren durch Deutschland gefolgert wird, da dieses Telegramm sich nicht auf jenen Vorschlag, sondern auf den einer Konferenz bezieht. Zu einer Vermittlung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ist Deutschland immer bereit gewesen (Blaubuch Nr. 18 und 46). Besonders auffallend ist es endlich, daß in dem Kommissionsbericht die längst bekannten drei deutschen Noten nicht erwähnt werden, aus denen hervorgeht, wie stark der Druck war, den die Berliner Regierung vom 28. Juli ab auf das Wiener Kabinett ausgeübt hat. Die Unterzeichneten gestatten sich daher, aus diesen wichtigen Dokumenten einiges hier anzuführen:

[574] Am 28. Juli wird Wien auf den versöhnlichen Charakter der serbischen Antwort hingewiesen und aufgefordert, gegenüber den deutschen und anderen Vermittlungsvorschlägen nicht mehr die bisherige Zurückhaltung zu beobachten (veröffentlicht durch Telegramm des Wolffbüros vom 12. Oktober 1917).

Am 29. (abgesandt Nacht 29./30.) wird die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit Petersburg als ein schwerer Fehler bezeichnet und beigefügt: »Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen.« (Schon veröffentlicht in der »Westminster Gazette« vom 1. August 1914, ferner mitgeteilt im Deutschen Reichs tag am 19. August 1915.)

In derselben Nacht wird zur Unterstützung des GREYschen Vorschlages von Blaubuch Nr. 88 nach Wien gedrahtet: »Wir stehen, falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden, so daß wir zwei gegen vier Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs politisches Prestige, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten Ansprüche Serbien gegenüber könnten durch Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegenüber wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich und uns eine ungemein schwere.« (Mitgeteilt im Hauptausschuß des Deutschen Reichstags am 9. November 1916.)

Mit dem erwähnten Vermittlungsvorschlag vom 29. Juli nachmittags (Blaubuch Nr. 88) war der Weg zur Erhaltung des Friedens gefunden. Berlin war bereitwillig darauf eingegangen und drängte in Wien auf die Annahme in so scharfer Weise, wie wohl noch nie in ernster Stunde ein Bundesgenosse zum anderen gesprochen hat. Es ist wahrlich nicht die Schuld der deutschen Regierung, wenn die der glücklichen Lösung so nahen diplomatischen Verhandlungen durch militärische Maßnahmen der Gegenseite jäh unterbrochen wurden.

[575] Was die durch den serbischen Gesandten in Paris veröffentlichten Dokumente betrifft, so ist der Bericht von WIESNER vom 13. Juli 1914 in Berlin niemals zur Kenntnis gebracht worden. Das Telegramm des österreichisch-ungarischen Botschafters, des Grafen SZÖGYÉNY, vom 25. Juli 1914, das für den Fall einer Kriegserklärung auf raschen Beginn der militärischen Operationen dringt, hält sich in dem Rahmen der schon erörterten Auffassung, daß eine örtliche Begrenzung des Streites, somit auch eine rasche Erledigung dieses Streites das beste Mittel zur Vermeidung einer Ausdehnung des Brandes sei. Was dann die Depesche des Grafen SZÖGYÉNY vom 27. Juli über die Zurückweisung möglicher englischer Vermittlungsvorschläge betrifft, so hat die Kommission sich sowohl an den ehemaligen Reichskanzler von BETHMANN HOLLWEG wie an den Staatssekretär von JAGOW gewendet und von beiden übereinstimmend die Auskunft er halten, daß dieser Bericht unmöglich zutreffend sein könne. Wir halten die Mitteilungen dieser beiden Männer für glaubwürdig, zumal in Anbetracht des Umstandes, daß der österreichisch-ungarische Botschafter über seine Jahre gealtert war. Tatsächlich – und darauf kommt es an – ist die deutsche Regierung nicht in dieser Weise verfahren, sondern hat vom 28. Juli an alles Denkbare getan, um Österreich zur Annahme von Vermittlungsvorschlägen zu bewegen. Hinsichtlich der Wiederaufnahme der direkten Besprechungen ist der Erfolg auch nicht ausgeblieben (Rotbuch Nr. 50). Die Angabe des Botschafters gehört gleichwohl zu den zahlreichen Einzelpunkten, die die Notwendigkeit der Untersuchung durch eine neutrale Kommission als besonders dringlich erscheinen lassen.

Schließlich muß darauf eingegangen werden, daß der Vorschlag des Zaren vom 29. Juli, das österreichisch-serbische Problem dem Schiedsgericht im Haag zu überweisen, keine Zustimmung gefunden hat. Die Akten geben über den Grund keinen Aufschluß, er ist sicherlich darin zu sehen, daß die an diesem Tage angeordnete Mobilmachung von 13 russischen Armeekorps die Befürchtung nahelegte, Rußland werde die Zeit der Verhandlungen im Haag zur Weiterführung seiner Rüstungen ausnutzen. Wie immer man vom Standpunkte der heutigen Anschauungen aus dieser Begründung gegenüberstehen mag, so glauben die Unterzeichneten, daß der Vorschlag des Zaren nur dann Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn er von einer Einstellung der russischen Mobilmachungsmaßnahmen begleitet gewesen wäre. Tatsächlich aber haben an demselben Tag, wo der[576] Zar das Schiedsgericht vorschlug, seine militärischen und diplomatischen Ratgeber den Beschluß gefaßt, die russische Teilmobilmachung zu einer allgemeinen zu erweitern (Anlage I).


III. Die Katastrophe

Diese allgemeine russische Mobilmachung war es, wodurch die im Sinne von Blaubuch Nr. 88 angebahnte, von Deutschland nachdrücklichst geförderte glückliche Lösung der Krise vereitelt wurde.

Die russischen Mobilmachungsvorbereitungen waren, wie in Anlage I näher ausgeführt, in den letzten Jahren wesentlich verbessert und gesteigert worden; die Kriegsvorbereitungsperiode für das ganze europäische Rußland, also auch gegenüber Deutschland, hatte schon am 26. Juli begonnen. Die am 25. im Prinzip beschlossene, am 29. angeordnete russische Teilmobilmachung hatte gegen Österreich-Ungarn schon eine Überlegenheit russischer und serbischer Streitkräfte bereitgestellt. Die am 29. beschlossene, am 30. angeordnete allgemeine russische Mobilmachung war durch keinerlei deutsche oder österreichisch-ungarische militärische Maßnahme gerechtfertigt.

Alle diese Punkte sind in dem Kommissionsbericht nicht einmal flüchtig gestreift. Das Verschweigen der russischen allgemeinen Mobilmachung ist um so auffallender, als über die Bedeutung dieser Maßnahme im Jahre 1914 eine Meinungsverschiedenheit nicht bestand. Es ist bekannt, wie dringend der britische Botschafter in Petersburg vor dem verhängnisvollen Schritt warnte (Blaubuch Nr. 17). Der allgemeinen Auffassung gab Oberst REPINGTON am 30. Juli in den »Times« mit den Worten Ausdruck: »Es wäre ein Wunder, wenn nicht sehr bald nach Bekanntmachung der russischen Mobilmachung ganz Europa in Flammen stände« (and in a very short time, after a Russian mobilization is announced, it will be a miracle if all Europe is not aflame).

Noch weniger Unklarheit konnte in Frankreich über die Tragweite der russischen Mobilmachung bestehen; hatte doch General BOISDEFFRE am 18. August 1892, am Tage nach Abschluß der französisch-russischen Militärkonvention, dem Zaren auseinandergesetzt, daß »die Mobilmachung so viel sei wie die Kriegserklärung« (je lui ai fait remarquer que la mobilisation c'était la déclaration de guerre; 3. franz. Gelbbuch Nr. 71). Das Bewußtsein der Bedenklichkeit dieser Maßnahme war es denn wohl auch, wodurch die französische Regierung veranlaßt wurde, die russische Mobilmachung tunlichst lange[577] geheimzuhalten. Noch am 31. Juli um 7 Uhr abends (gleich 9 Uhr Petersburger Zeit) erklärte der französische Außenminister dem deutschen Botschafter, »über eine angebliche Totalmobilisierung der russischen Armee und Flotte in keiner Weise unterrichtet zu sein« (Gelbbuch Nr. 117), obwohl der am frühen Morgen in Petersburg öffentlich angeschlagene Befehl doch keinem der dortigen Diplomaten hatte verborgen bleiben können und obwohl, wie die »Prawda« vom 9. März 1919 nach einem Geheimtelegramm ISWOLSKIJS mitteilt, ein die »volle Mobilisation der russischen Armee ohne jede Ausnahme« bestätigendes Telegramm des französischen Petersburger Botschafters schon am Morgen des 31. in Paris eingegangen war.

Bei keiner sachkundigen Persönlichkeit konnte der mindeste Zweifel bestehen, was die russische Mobilmachung für Deutschland bedeutete. Der Krieg nach zwei Fronten stand bevor, er war gegen erdrückende Übermacht zu führen, im Westen stand ein Heer von größter Operationsbereitschaft. Defensive nach beiden Seiten war sicheres Verderben. Die Offensive aber mußte nach der damals nicht nur in Berlin, sondern bei den Militärs wohl aller Länder bestehenden Auffassung mit tunlichster Schnelligkeit gegen Westen, gegen den zuerst operationsbereiten, zuerst zu fassenden Gegner, geführt werden, so daß nicht nur Wochen, sondern Tage wichtigen Zeitgewinn bedeuteten. Daß in der Kriegserklärung an Frankreich einige Meldungen über französische Fliegerangriffe leichtfertig ohne genaue Nachprüfung verwertet wurden, ist bedauerlich, ändert aber nichts an der Tatsache, daß nach Bekanntwerden der russischen Mobilmachung sofort auch mit der französischen, also dem Kriege nach zwei Fronten, gerechnet werden mußte. Diese Auffassung wird nachträglich durch die nunmehr bekannten Bestimmungen der russisch-französischen Militärkonvention vom 17. August 1892 bestätigt, wo im Falle der Mobilmachung auch nur einer Macht des Dreibundes die unverzügliche und gleichzeitige Mobilmachung der gesamten französischen und russischen Streitkräfte und deren schleuniger Einsatz zu entscheidendem Kampfe (ces forces s'engageront à fond, en toute diligence) vereinbart ist.

Im Falle einer Gesamtmobilmachung Rußlands stand jede deutsche Staatsleitung, welche deren Durchführung um deswillen abgewartet hätte, weil Verhandlungen angeboten wurden, dem eigenen Volke gegenüber vor einer furchtbaren und von niemandem zu tragenden Verantwortung. Die den gegnerischen Regierungen überreichten[578] Dokumente zeigen, daß bei den Plänen des Zarismus, solange dieser aufrecht stand, diese Verantwortung nicht übernommen werden durfte. Sie wäre unter allen Umständen nur dann zu tragen gewesen, wenn eine übernationale hinreichend starke Zwangsgewalt die unbedingte Garantie übernommen hätte, daß die Verhandlungen keinesfalls dazu benutzt werden würden, jene riesenhafte russische Überlegenheit zuerst voll zur Entfaltung zu bringen und dann die Verhandlungen abzubrechen und Deutschland mit Krieg zu überziehen, dessen Ausgang von vornherein feststand. Eine solche übernationale Garantiemacht aber bestand damals nicht.


IV. Schlußfolgerungen

Deutschland hat der österreichischen Absicht, die großserbische Agitation durch eine nötigenfalls mit Waffengewalt unterstützte Aktion aus der Welt zu schaffen, zugestimmt. Es wäre von entscheidender Wichtigkeit gewesen, wenn sofort nach Eintreffen der serbischen Antwortnote am 27. das Wiener Kabinett von unwiderruflichen Maßnahmen abgehalten worden wäre, da die Berliner Regierung schon an diesem Tage den Eindruck gewonnen hatte, daß Serbien weit entgegengekommen war. Nach eingehender Prüfung der Note ist dann am 28. das Äußerste geschehen, um das Wiener Kabinett zum Einlenken zu bewegen. Berlin hat insbesondere den Vorschlag Sir EDWARD GREYS am 29. nachmittags, der Österreich-Ungarn die ihm nach Ansicht aller Großmächte gebührende Genugtuung gewährte, mit den denkbar schärfsten Mitteln unterstützt. Warum die Antwort des Wiener Kabinetts auf diesen Vorschlag nicht sofort erfolgt ist, entzieht sich der Kenntnis der Unterzeichneten. Dieses ist einer der wesentlichsten Punkte, der noch der Aufklärung bedarf. Was Berlin betrifft, so ist ein Meinungswechsel vom 26. zum 28. nach den Akten unverkennbar, und es ist nach der Überzeugung der Unterzeichneten mangelnder Entschlußkraft zuzuschreiben, daß nicht schon am 27. die letzten Konsequenzen daraus gezogen wurden.

Den Weltkrieg hat Deutschland, wenn auch dieses Risiko mit in den Kreis der Betrachtungen gezogen worden war, nicht gewollt. Die deutsche Regierung galt während mehr als 40 Jahre, um die eigenen Worte des Kommissionsberichtes zu gebrauchen, als »Vorkämpferin des Friedens« (Gelbbuch Nr. 6). Eroberungspläne lagen den Gedanken der leitenden deutschen Staatsmänner weltenfern.

[579] Anders war das in Rußland. Die Verwirklichung der Absichten der führenden panslawistischen Kreise war ohne Krieg nicht erreichbar. Diese friedensfeindlichen Elemente setzten in den entscheidenden Tagen ihren Willen durch. Denn gerade in dem Augenblick, da der Friede gesichert erschien, traf Rußland die Maßnahmen, die ihn unmöglich machten. Die Unterzeichneten können nicht umhin, der Ansicht Ausdruck zu geben, daß, wenn von London und Paris ein ebenso starker Druck auf Petersburg ausgeübt worden wäre, wie von Berlin auf Wien, der verhängnisvolle Schritt, den kriegslustige Militärs gegen den Willen des Zaren durchzusetzen wußten, wohl unterblieben wäre.


V. Verletzung der belgischen

und luxemburgischen Neutralität

Hinsichtlich der Verletzung der belgischen und luxemburgischen Neutralität teilen die Unterzeichneten vollkommen den Standpunkt, den der deutsche Reichskanzler am 4. August 1914 unter dem Beifall des Reichstages eingenommen hatte, daß es sich um ein »wiedergutzumachendes Unrecht« handle. Sie bedauern, daß diese Auffassung während des Krieges vorübergehend aufgegeben und eine nachträgliche Rechtfertigung des deutschen Einmarsches versucht wurde.


VI. Rückblickende Betrachtungen

Die Unterzeichneten sehen sich schließlich zu folgenden allgemeinen Bemerkungen veranlaßt:

Man kann nach unserer Ansicht grundsätzlich nicht in der Art, wie es der gegnerische Kommissionsbericht tut, die Frage einer Kriegsursache durch Aufzählung von formellen Anlässen lösen, welche einen bestehenden Zustand politischer Hochspannung in einen Krieg hinübergleiten ließen. Neben der völligen und erstaunlichen Irrtümlichkeit der Darstellung der Einzeltatsachen liegt darin der grundsätzliche Fehler des ganzen Verfahrens. Man wird vielmehr die Fragen aufwerfen müssen:

1. Welche Regierungen hatten in der Vergangenheit am meisten jenen Zustand dauernder Kriegsbedrohtheit gefördert, unter welchem Europa vor dem Krieg jahrelang gelitten hat?

Ferner und im Zusammenhang damit:[580]

2. Welche Regierungen haben politische und wirtschaftliche Interessen verfolgt, welche nur durch einen Krieg verwirklicht werden konnten?

Was zunächst die zweite Frage anlangt, so können wir die Bemerkung nicht unterdrücken, daß künftig für die Antwort darauf wohl auch die Friedensbedingungen, vor allem diejenigen wirtschaftspolitischer und territorialer Art, welche jetzt zur Diskussion stehen, als Beweismittel dienen werden, wenn auf ihnen beharrt werden sollte.

Zu beiden für die Beurteilung des Problems entscheidenden Punkten aber ist das Folgende zu sagen:

Die frühere deutsche Regierung hat nach unserer Ansicht schwere Fehler begangen, welche allerdings in durchaus anderer Richtung liegen, als in derjenigen, in welcher ein Teil der öffentlichen Meinung unserer Gegner sie sucht. Sie liegen insbesondere ganz und gar nicht in der Richtung einer »Prämeditierung« eines Krieges mit einer der gegnerischen Mächte seitens irgendeines politisch verantwortlichen deutschen Staatsmannes. Eine solche Politik hätte auch innerhalb des deutschen Volkes keinen Rückhalt gefunden. Es ist einer der beklagenswertesten Fehler eines Teiles der öffentlichen Meinung des Auslandes, die verwerflichen und verantwortungslosen Äußerungen einer kleinen Gruppe chauvinistischer Literaten als Ausdruck der Gesinnung des deutschen Volkes zu behandeln, während leider weit größere Kreise anderer Länder in ihren Äußerungen mindestens in gleichem Maße dem Chauvinismus huldigten.

Die wirklichen Fehler der deutschen Politik lagen weit zurück. Der 1914 im Amt befindliche deutsche Reichskanzler hatte eine politische Erbschaft übernommen, welche seinen rückhaltlos aufrichtigen Versuch, die internationale Lage zu entspannen, von vornherein fast zur Aussichtslosigkeit verurteilte, oder dafür doch ein solches Maß staatsmännischer Kunst und vor allem Entschlußkraft verlangte, wie er sie teils nicht besaß, teils unter den Verhältnissen der damaligen deutschen Staatsordnung nicht zur Geltung bringen konnte. Es ist ein überaus schwerer Irrtum, moralische Schuld da zu suchen, wo in Wahrheit Nervosität, Schwäche gegenüber dem lärmenden Auftreten der oben bezeichneten kleinen, aber rücksichtslosen Gruppe, endlich mangelnde Fähigkeit zu schnellen und eindeutigen Entschlüssen in schweren Lagen Unheil entstehen ließen. Über die letzten, dem Kriegsausbruch vorausgehenden Zeiträume der deutschen Diplomatie[581] wird eine mehrbändige, in mehrmonatlicher Arbeit hergestellte Publikation der Akten erschöpfende Auskunft geben. Jeder aber, der die Instruktionen des Reichskanzlers aus der letzten Zeit vor dem Kriegsausbruch liest, wird dem vorstehenden Urteil beipflichten müssen. Die deutsche Regierung hielt zunächst auf Grund der Darlegungen des Wiener Kabinetts eine österreichische militärische Expedition nach Serbien für im Interesse der Sicherung des Friedens unvermeidlich. Sie glaubte, das damit verbundene Risiko eines Eingreifens Rußlands mit seinen Folgen für ihre eigene Bundespflicht auf sich nehmen zu müssen. Sie hat bezüglich der Art der von Österreich an Serbien zu stellenden Forderungen dem Bundesgenossen zunächst ganz freie Hand gelassen. Sie hat dann, als auf das Ultimatum eine Antwort erfolgte, welche ihr selbst als genügend erschien, um jene Expedition dennoch zu unterlassen, diese ihre Ansicht zwar nach Wien mitgeteilt, aber sie hat, offenbar in allzu großem Vertrauen auf die damalige Leitung der dortigen Außenpolitik, nicht sofort, sondern erst am Tage darauf, dann allerdings mit der denkbar äußersten Energie, die letzten Konsequenzen: die Androhung der Versagung der Bundeshilfe, gezogen. Ob freilich bei einem noch schnelleren Verfahren ein Weltkrieg vermieden worden wäre, ist nicht sicher.

Denn bezüglich der Verantwortlichkeit in dem jetzt hier zur Diskussion stehenden Sinne müssen wir feststellen: Es gab in Europa unter den Großmächten jedenfalls eine, deren planmäßig viele Jahre vor dem Kriege verfolgte Ziele sich ausschließlich durch einen Angriffskrieg erreichen ließen und welche daher auf diesen bewußt hingearbeitet hat: den russischen Zarismus in Verbindung mit jenen sehr einflußreichen Kreisen Rußlands, welche in dessen Politik hineingezogen waren. Die schon einmal zitierten, zum Teil noch unbekannten Dokumente, insbesondere der Brief SASONOWS an den Gesandten HARTWIG in Belgrad, beweisen, daß die russische Regierung durch Instruktionen an ihre Vertreter in Belgrad und andere Mittel Serbien planmäßig auf den Weg der Eroberung auf Kosten des Territorialbestandes Österreich-Ungarns, auf dessen Gebiet Serbiens »verheißenes Land« liege, hingeleitet und ein gemeinsames kriegerisches Vorgehen zu diesem aggressiven Zwecke in Aussicht genommen hatte. Wie nach Überzeugung der Unterzeichneten vollkommen evident ist, hat sie dies nicht aus uneigennütziger Freundschaft zu Serbien getan, sondern deshalb, weil sie im eigenen Interesse die Zertrümmerung[582] Österreich-Ungarns als politisches Ziel konsequent verfolgte. Sie war dabei ferner und vor allem von dem Bestreben geleitet, jedes Hemmnis für ihre eigene Ausdehnung auf dem Balkan und insbesondere für die Eroberung der Meerengen zu beseitigen. Daß sie die gewaltsame Aneignung nicht nur des Bosporus, sondern auch der Dardanellen planmäßig verfolgt und vorbereitet hat, ergeben die Dokumente der Anlage 6. Dabei war ihr genau bekannt, daß es in Deutschland weder in der Regierung noch innerhalb der Nation irgend jemand gab, der einen Krieg mit Rußland für wünschenswert gehalten hätte, dessen Aussichten ganz allgemein, auch, wie feststeht, von seiten der militärischen Autoritäten äußerst skeptisch beurteilt wurden, und von welchem im Falle des Erfolges niemand irgendeinen greifbaren Vorteil erhoffte. Sie wußte andererseits aber auch, daß Deutschland der Donaumonarchie durch geschichtliche Bande, Bündnis und Verwandtschaft großer Teile der österreichischen Bevölkerung verbunden war, und daß sie also bei einem Angriff auf den Bestand jener Monarchie auch dem militärischen Widerstand Deutschlands begegnen werde. Sie hat für ihre Zwecke daher das 1892 geschlossene und 1912 durch eine Marinekonvention erweiterte Kriegsbündnis mit Frankreich und die weiter geschaffenen Verbindungen dazu benutzt, in einem ihr günstig scheinenden Moment den »Mechanismus der Entente« in Bewegung zu setzen und ihre Freunde in den längst beabsichtigten Krieg mit hineinzuziehen. An diesem Punkte liegt die wirkliche Ursache der Entstehung des Weltkrieges.

Wir betrachten es als ein teils durch Schicksal, teils aber durch Fehler unserer politischen Leitung herbeigeführtes schweres Mißgeschick Deutschlands, daß es durch den unvermeidlichen Gegensatz gegen den Zarismus auch mit Ländern in Gegensätze und schließlich in kriegerische Verwicklungen geriet, denen es durch starke Gemeinschaft geistiger Interessen verbunden, und mit welchen nach unserer Überzeugung eine Verständigung möglich war.

Es muß freilich nachdrücklich betont werden, daß die französische Regierung vor dem Kriege die Absicht einer Wiedererlangung von Elsaß-Lothringen niemals rückhaltlos aufgegeben hatte, daß diese Absicht nur durch Krieg zu verwirklichen war und kein sicheres Mittel anzugeben ist, durch welches mit der letzten französischen Regierung vor dem Kriege eine Verständigung über diese Frage zu erzielen gewesen wäre. Dagegen standen sich die Ansichten der unter der[583] Führung des Herrn Jaurès stehenden französischen Kreise einerseits und diejenigen der deutschen sozialistischen und bürgerlichen Demokratie andererseits vor dem Kriege außerordentlich nahe. Eine Einflußnahme jener Kreise im Sinne eines friedlichen Ausgleichs mit Deutschland war jedoch dadurch gehindert, daß Frankreich durch das feste Bündnis an die Politik des Zarismus gekettet war. Die französische Regierung hat, wie die Dokumente ergeben, bei Gelegenheiten, welche Rußland in einen Konflikt mit Deutschland bringen konnten, keine Ratschläge gegeben, welche Rußland von seiner friedensfeindlichen Haltung grundsätzlich abbringen, mehrfach aber solche, welche es darin ermutigen mußten. So hatte der Botschafter ISWOLSKY durch das Herrn POINCARÉ vorher vorgelesene Telegramm 369 vom 17. bzw. 18. November 1912 dem Minister SASONOW mitgeteilt, der französische Ministerpräsident erachte für den Fall einer Unterstützung Österreichs durch Deutschland im Balkankonflikt den Bündnisfall für gegeben. Am 25. Februar 1913 teilte der Botschafter BENCKENDORFF seiner Regierung mit: Von allen Mächten sei seinem Eindruck nach Frankreich die einzige, die einen Krieg ohne Bedauern sehen würde. 1914 erklärte schon am 24. Juli, also vor Abbruch der österreichisch-serbischen Beziehungen, der französische Botschafter der russischen Regierung, daß Frankreich, abgesehen von nachdrücklicher diplomatischer Unterstützung, nötigenfalls alle durch das Bündnis mit Rußland bedingten Verpflichtungen erfüllen würde.

Bei dieser Sachlage ist es durchaus unmöglich, aus dem Umstande, daß der Krieg gegen Frankreich militärisch offensiv geführt werden mußte, ihn auch politisch als einen Angriffskrieg Deutschlands gegen Frankreich hinzustellen. Frankreich war an den Zarismus fest gebunden.

Was England anlangt, so kann hier nicht erschöpfend untersucht werden, welche Schritte in der Vergangenheit die Regierungen hätten tun oder unterlassen sollen, um das unzweifelhaft beiderseits vorhandene, höchst verhängnisvolle wechselseitige Mißtrauen zu zerstreuen. Die englische Regierung hat oft erklärt, daß sie von der öffentlichen Meinung ihres Landes in ihrem Verhalten abhängig sei. In der öffentlichen Meinung Englands aber gab es eine sehr starke Strömung, welche darauf ausging, jede Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu hintertreiben. Wir verweisen auf die bekannten Worte des Herrn LLOYD GEORGE aus dem Jahre 1908, welche sich dagegen wenden mußten. Nur infolge dieses gegenseitigen[584] Mißtrauens ist im Jahre 1912 die einigende Formel zwischen dem Reichskanzler von BETHMANN HOLLWEG und Herrn HALDANE nicht gefunden worden, und hier liegt auch der letzte Grund, weshalb es der deutschen Regierung 1914 unmöglich schien, den Konferenzvorschlag des englischen Außenministers anzunehmen. Wir geben unsererseits ohne weiteres zu, daß nicht die Tatsache, wohl aber der schließliche Umfang und der Geist des deutschen Flottenbaues in den letzten Jahren in England Mißtrauen erregen konnten. Da dies gegenseitige Mißtrauen zweifellos einer der Hauptgründe der gespannten Lage Europas war, so halten wir es für bedauerlich, daß kein Weg zu seiner Beseitigung gefunden wurde. Wir hätten daher sowohl ein anderes Verhalten Deutschlands gelegentlich der Haager Friedenskonferenzen, wie gelegentlich der Aussprache über die deutschen Flottenbaupläne gewünscht. Andererseits müssen wir es beklagen, daß durch bekannte und oft zitierte Aufsätze englischer Zeitschriften, durch das Treiben und den Einfluß der Northcliffe-Presse, durch Akte wie die Ablehnung der Kodifikation des Seerechtes im englischen Oberhaus, in Deutschland schweres Mißtrauen genährt wurde. Auch ist es unerfreulich, daß durch einen sehr tüchtigen amerikanischen Schriftsteller (VEBLEN, Theory of Business Enterprise, 1904) die in einzelnen Kreisen aller Länder bestehende, nach unserer Ansicht völlig irrtümliche Theorie von der angeblichen Naturnotwendigkeit eines Handelskrieges eine gewichtige Unterstützung erhielt. So trieben sich die nationalistischen Agitationen der verschiedenen Länder gegenseitig in die Höhe. Angesichts dessen müssen wir es ganz besonders beklagen, daß durch die jetzt vorgelegten Friedensbedingungen die von uns bekämpfte Ansicht: daß der Krieg von englischer Seite als ein Mittel zur Niederwerfung eines lästigen Konkurrenten vorbereitet und geführt worden sei, voraussichtlich für alle Zukunft in der deutschen öffentlichen Meinung befestigt werden wird.

Für die Lage Deutschlands in dem Jahrzehnt vor dem Kriege war und blieb aber entscheidend, daß dieses Land in einem Zeitalter, welches noch kein Mittel zur Vermeidung von Kriegen kannte, einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem scheinbar unerschütterlich feststehenden Zarismus durch kein ehrenhaftes Mittel entgehen konnte ohne Preisgabe nicht nur unserer Vertragstreue, sondern auch unserer eigenen nationalen Unabhängigkeit. Das einzige Mittel wäre unter den damaligen Verhältnissen eine ganz feste und bindende[585] Vereinbarung mit England gewesen, welche beiden Teilen Vertrauen eingeflößt und sowohl Deutschland als Frankreich vor jedem Angriffskrieg geschützt hätte. Wir müssen den Nachweis erwarten, daß eine solche Vereinbarung durch einen englischen Minister bei der öffentlichen Meinung Englands in den letzten Jahren vor dem Kriege noch durchzusetzen war gegenüber jenen Tendenzen, welche wir oben feststellen mußten. Wir wiederholen: daß wir jeden etwa noch nachweisbaren Schritt einer englischen Regierung auf diesem Wege als wertvoll anerkennen und jedes etwaige Ausweichen einer deutschen Regierung vor solchen Möglichkeiten für einen Fehler halten würden.

Der Zarismus, mit welchem eine wirkliche Verständigung vollkommen ausgeschlossen war, bildete das furchtbarste System der Verknechtung von Menschen und Völkern, welches – bis zu diesem jetzt vorgelegten Friedensvertrage – jemals ersonnen worden ist. Nur als Verteidigungskrieg gegen den Zarismus hat 1914 das deutsche Volk, wie mit Recht namentlich die gesamte Sozialdemokratie damals er klärt hat, den Kampf einmütig und entschlossen aufgenommen. Auch heute, wo Deutschlands militärische Macht für immer vernichtet ist, halten wir diesen Abwehrkrieg für unvermeidlich. Mit dem Augenblick, in welchem das Ziel der Niederwerfung der zaristischen Macht erreicht war, wurde der Krieg sinnlos. Wir würden seine Fortsetzung als einen Frevel der früheren Regierung bezeichnen, sobald uns zweifelsfrei nachgewiesen würde, daß die Gegner bereit gewesen wären, einen Frieden ohne Sieger und ohne Besiegte auf der Grundlage der Achtung der gegenseitigen Ehre mit uns zu schließen. Dafür fehlt bis heute der Beweis. Die Friedensbedingungen, welche dem Volke des auf demokratischer Grundlage erneuerten Deutschland im Gegensatz zu feierlichen Verheißungen gestellt worden sind, sprechen leider eine so schlimme Sprache für das Gegenteil, daß, wenn an ihnen festgehalten wird, es keinerlei Mittel geben wird, diesen Beweis jemals glaubhaft zu erbringen.

Versailles, den 27. Mai 1919


HANS DELBRÜCK

MAX WEBER

MAX GRAF MONTGELAS

ALBRECHT MENDELSSOHN BARTHOLDY[586]


Fußnoten

1 Sog. Professorendenkschrift (Das Deutsche Weißbuch über die Schuld am Kriege, 1. Ausgabe 1919, S. 56-68; 2. Ausgabe 1927, S. 63-77).

Nach der in MARIANNE WEBERS »Lebensbild« Max Webers (1. Auflage 1926, S. 668) enthaltenen Angabe hat MAX WEBER in Versailles die »Einleitung« zu dem Ganzen verfaßt. Da die Denkschrift selbst in den zugleich die Dokumentation enthaltenden Darlegungen der Anlagen I-XI und deren Unteranlagen ihr Schwergewicht hat, werden unter der »Einleitung« die hier abgedruckten »Bemerkungen« zu verstehen sein. Die Verfasserschaft ergibt sich zudem inhaltlich daraus, daß darin Gedanken und Beispiele MAX WEBERS aus seinen voranstehenden gesammelten politischen Aufsätzen in nuce wiederkehren, formell aus der Tatsache, daß MAX WEBER dem offiziellen Brauch entsprechend unmittelbar unter dem Text der Rechtsunterzeichnete ist. Auch die Vorbemerkung zu den Anlagen (Seite 69 bzw. 78 des Weißbuches) offenbart nach ihrem Vorhandensein und ihrer Diktion unverkennbar die Hand ihres Urhebers.

MAX GRAF MONTGELAS hat zwei Jahre später eine eigene Darstellung veröffentlicht unter dem Titel: Zur Schuldfrage. Eine Untersuchung über den Ausbruch des Weltkrieges, Berlin 1921. (D.H.)

Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988.
Lizenz:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Alceste. Ein Singspiel in fünf Aufzügen

Libretto zu der Oper von Anton Schweitzer, die 1773 in Weimar uraufgeführt wurde.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon