Aesthetisch

[22] Aesthetisch. (Schöne Künste überhaupt)

Die Eigenschaft einer Sache, wodurch sie ein Gegenstand des Gefühls, und also geschikt wird, in den Werken der schönen Künste gebraucht zu werden. Die Ausdrüke: ein ästhetischer Gedanken, ein ästhetisches Bild u. d. gl. bezeichnen solche Gedanken und Bilder, die bequem sind, in einem Werk des Geschmaks Platz zu finden. Die Ausdrüke: poetisch, mahlerisch, rednerisch und dergleichen, bezeichnen so viel besondere Arten des Aesthetischen.

Zum ästhetischen Stoff gehört alles, was vermögend ist, eine, die Aufmerksamkeit der Seele an sich ziehende, Empfindung hervor zu bringen.1 Solche Empfindungen können aber nicht ohne die selbstthätige Mitwürksamkeit der Seele hervor gebracht werden.2 Also werden sie durch den ästhetischen Stoff mehr veranlasset, als hervorgebracht. Der Künstler verliert seine Arbeit, wenn die, für welche sie gemacht ist, die Fähigkeit nicht haben, davon gerührt zu werden. Also hat zwar [22] der Künstler den Charakter und das Genie der Personen, für welche er arbeitet, genau zu erwägen: dieses aber hindert nicht, daß er nicht auch, auf der andern Seite, die Beschaffenheit des Aesthetischen überhaupt sich genau müsse bekannt machen. Das Aesthetische in einem Gegenstand erwekt die Empfindung nicht allemal; aber der Mangel desselben schließt allemal und ohne Ausnahme den Gegenstand von den Werken der Künste aus. Bringt die Kenntniß des ästhetischen den Künstler nicht allemal zu seinem Zwek, so verwahrt sie ihn doch vor der Schuld die Erreichung desselben selbst zu hindern.

Die Gegenstände, die geschikt sind Empfindungen zu veranlassen, können in drey Gattungen eingetheilt werden. Sie stellen sich entweder dem Verstande dar, oder der Einbildungskraft, oder sie würken unmittelbar auf die Begehrungskräfte der Seele. Aus so viel verschiedenen Gattungen besteht der ästhetische Stoff. Die nähere Betrachtung jeder Gattung ist an einem andern Orte vorgenommen worden.3

Wir bemerken hier nur überhaupt, daß man oft sehr unrecht das Schöne für die einzige Gattung des ästhetischen Stoffs angiebt. Dahin zielet das vermeinte Grundgesetz der schönen Künste ab: Man soll die Natur ins Schöne nachahmen. Das Häßliche hat einen eben so gegründeten Anspruch auf die Künste, als das Schöne. Furcht, Abscheu und andre widrige Empfindungen zu erweken, gehört eben so gewiß zum Endzwek der Künste, als die Erwekung des Vergnügens. Jene widrigen Empfindungen aber werden nicht durch das Schöne hervorgebracht. Es ist also nothwendig, daß der Begriff des Aesthetischen auf alle Arten der Empfindungen ausgedehnt werde.

Noch ist dem Künstler das Nachdenken über den Werth des ästhetischen Stoffs zu empfehlen. Diesen bekömmt er nicht aus der Stärke der durch ihn veranlaßten Empfindung, sondern aus dem Guten, das durch selbige bewürkt wird. Man kann Ekel und Abscheu oder Vergnügen erweken, die auf weiter nichts abzielen, als daß überhaupt die Thätigkeit der Seele gereizt werde. Aber eben diese Empfindungen können durch Gegenstände veranlasset werden, an denen der Ekel oder das Vergnügen höchst wichtig ist. Es dienet zu nichts, einen Menschen durch ein plötzliches Geschrey, als ob ein großes Unglück entstanden sey, zu erschreken; aber ihm Schreken über eine begangene Missethat zu erweken, ist etwas Wichtiges. Auf diesen Werth des ästhetischen Stoffs muß der Künstler, der auf wahren Ruhm Anspruch macht, seine Aufmerksamkeit richten, und diesen muß er in der ganzen Natur und in allen Winkeln der Philosophie und der Moral aufsuchen.

Blos in der körperlichen und sittlichen Natur einige angenehme Blumen aufzusuchen, das Gefällige, das Belustigende, das Ergötzende aus allen Quellen hervor zu bringen, ist eine sehr geringe Veranstaltung zur Herbeyschaffung des äesthetischen Stoffs. Eine Sammlung von Schmetterlingen und schön gefärbten Muscheln macht kein Cabinet aus, aus welchem der Reichthum und die allmächtige Kraft der Natur könnte bewiesen werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 22-23.
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