Angst

[54] Angst.

Der höchste Grad der Furcht, und also eine sehr wichtige Leidenschaft. Da sie nicht so plötzlich und so vorüber gehend ist, wie der Schreken, sondern lange anhalten, und die Seele in ihren innersten Winkeln durchwühlen kann; so ist schwerlich irgend eine andre Leidenschaft, die so daurende Eindrüke in dem Gemüthe zurük läßt. Sie ist deswegen höchst wichtig, weil sie das kräftigste Mittel ist, einen immerwährenden Abscheu für dasjenige zu erweken, welches diese unerträglichste aller Leidenschaften hervor gebracht hat.

Von allen Künstlern kann der tragische Dichter den besten Gebrauch davon machen, weil er uns das innere und äußere derselben vor Augen legen, und vermittelst der Täuschung diese Leidenschaft in einem ziemlich hohen Grad in uns erweken kann. Selten können die zeichnenden Künste sich zu dem Grade der Vollkommenheit erheben, daß sie die Angst erweken können. Kaum ist Raphaels großes Genie dazu hinreichend.

In dem epischen Gedicht hat Klopstok diese Leidenschaft so wol an dem Abbadona, als an dem Judas Ischarioth, mit einer wahren Meisterhand behandelt. Auch in der Noachide kommen verschiedene sehr schöne Bearbeitungen dieser Leidenschaft vor, besonders im zehnten Gesang, da unter andern die Scene, wo Lamech einen im Todesschlummer liegenden Sünder aufwekt, der beym Aufwachen glaubt, daß der Tag des Gerichts erschienen sey, eine meisterhafte Erfindung ist, die auch Füßli in der, dem X. Gesang vorgesetzten, Zeichnung sehr glüklich ausgedrükt hat.

Im Trauerspiel hat Aeschylus in den Eumeniden die Angst auf das höchste getrieben; und unter den Neuern hat Shakespear sie an verschiedenen Orten so ausnehmend vorgestellt, daß es kaum möglich scheint, ihn zu übertreffen.

An die Behandlung dieser Leidenschaft darf sich kein mittelmäßiger Kopf wagen; sie erfodert einen großen Meister.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 54.
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