Augenmaaß

[93] [93] Augenmaaß. (Zeichnende Künste)

Die Fertigkeit, Formen, Größe und Verhältniße mit solcher Genauigkeit ins Auge zu fassen, daß die Einbildungskraft eine ganz genaue Vorstellung davon hat. In zeichnenden Künsten ist das Augenmaaß das erste und unentbehrlichste Talent. Wo dieses fehlt, da hilft weder Zirkel noch Maaßstab. Der Zeichner muß, wie Michel Angelo sich auszudrüken pflegte, den Zirkel im Auge und nicht in der Hand haben, und einer der größten Mahler sagt: die erste Bemühung eines Anfängers soll seyn, das Auge zur Richtigkeit zu gewöhnen; so daß er dadurch fähig werde, alles nachmachen zu können.1 Nach eben dieses großen Meisters Urtheil, hat Raphael selbst einen guten Theil seiner Größe dem Augenmaaß zu danken. Er setzt den Zeichner nicht nur in Stand, jeden Gegenstand nachzuahmen, sondern ihm auch einen Grad der Wahrheit zu geben, der mit großer Kraft rühret.2 Wer einmal von den in Papier ausgeschnittenen Bildern des bekannten Huberts von Genff etwas gesehen hat, wird die große Wichtigkeit des Augenmaaßes lebhaft fühlen. Mit einer bewundrungswürdigen Wahrheit weiß dieser außerordentliche Künstler jeden Gegenstand blos durch ausschneiden in Papier, ohne vorher gegangene Zeichnung, darzustellen.

Die Natur muß dazu, wie zu jedem Talente, die Anlage geben; aber eine lange Uebung scheinet doch allemal viel dazu beyzutragen. Fast alle Mahler, die zur Zeit der Wiederherstellung der Kunst gelebt haben, besaßen das Augenmaaß in einem ziemlich hohen Grad. Man sieht viele Zeichnungen und Gemählde aus Albrecht Dürers Zeiten, die sich durch eine sehr starke Wahrheit empfehlen; schlecht gemahlte Portraite, die blos von der Wahrheit der Zeichnung einen großen Werth haben. Die Richtigkeit des Auges, sagt Mengs, hatten alle Mahler dieser Zeit; hätten alle so gut als Raphael gewählt; so würden sie alle so gut als er gezeichnet haben.3 Dieses ist eine höchst wichtige Anmerkung für alle, die sich auf zeichnende Künste legen. Sich unaufhörlich im Augenmaaß üben, ist schon die Hälfte der Kunst. Dahin zielt ohne Zweifel auch der dem Apelles zugeschriebene Wahlspruch: Nulla dies sine linea.

1Mengs über die Schönheit und über den Geschmak in der Mahlerey. Vorrede. S. XIV.
2S. Wahrheit.
3In dem angeführten Werk. S. 49.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 93-94.
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