Distichon

[270] Distichon. (Dichtkunst)

Ein kleines Gedicht in zwey Versen, welches einen merkwürdigen Gedanken, oder ein Bild auf eine lebhafte [270] Weise darstellt. Es kann aber diese Benennung auch zweyen aus einem grossen Gedicht genommenen Versen gegeben werden, die einen ausser der Verbindung bestehenden merkwürdigen Sinn haben; wovon man in Elegien unzählige Beyspiele findet. Das distichon kann demnach eine Aufschrift seyn, wie folgendes, das Voltaire an dem Fuß eines ausgehauenen Amors gesetzt hat.


Qui que tu sois, voici ton maitre,

Il l'est, il le sut ou le doit être.


Oder es kann ein Sinngedicht seyn, wie dieses, welches dem Plato zugeschrieben wird.1


Τὴν ψυχὴν 'Αγάθωνα φίλων ἐπὶ χείλεσιν ἔχον;

'Ηλδε γὰς ἥ τλήμων ὠς διαβησομένη.


Welches sehr artig durch folgendes lateinische Distichon gegeben wird.


Suavia dans Agathoni animam ipse in labra tenebam;

Aegra enim properans tanquam abitura fuit.


Wenn das Distichon wie hier aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht, so scheinet es die bequämste Form zu haben, um leicht ins Gedächtniß gefaßt zu werden. Aus diesem Grunde haben schon die Alten den Einfall gehabt, merkwürdige Sittenlehren und Denksprüche in solchen Distichen vorzutragen, von welcher Art die bekannten Disticha Dionysii Catonis sind.

1Diog. Laert.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 270-271.
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