Das Labyrinth

[347] Das Labyrinth, eine Gattung großer Werke der Natur und ältern Baukunst, worin es unmöglich war, sich ohne künstliche Mittel herauszufinden. Es gab deren mehrere. Die beiden berühmtesten waren auf der Insel Kreta (jetzt Candia) im Mittelländischen[347] Meere und in Egypten am See Möris. 1) Das Egyptische war ein sehr großes Gebäude von weißem Marmor. Es stand halb unter und halb über der Erde, und faßte gegen 3000 Säle und Zimmer in sich, deren ganze Einrichtung und Eintheilung, nach Gatterer, anzeigt, daß es eine architektonisch-symbolische Darstellung des Thierkreises und des Laufs der Sonne mit den übrigen Planeten durch denselben gewesen ist. Es konnte auch durch seine drei tausend Zimmer und durch die darin befindlichen Thierbilder aller Art die Wanderung der Seele durch alle Arten der Thierkörper mahlen; auch war es wohl zu astrologischen Wahrsagungen bestimmt. 2) Das Labyrinth auf der Insel Kreta, eine große unterirdische Höhle, von so vielen sich durchkreuzenden Gängen und Klüften, und so finster, daß es unmöglich war, ohne eine Schnur und Fackel wieder herauszukommen. Hier hielt sich, wie die Fabel sagt, der Minotaur auf, ein Ungeheuer, das halb Mensch und halb Stier war, und endlich vom Theseus erlegt wurde, welcher sich durch einen am Eingange des Labyrinths befestigten Faden des Rückwegs versichert haben soll. (Vergl. Ariadne.) – Dieses natürliche Labyrinth auf der Insel Kreta (welches Savary vor noch nicht zwanzig Jahren besucht hat) ist jedoch von dem künstlichen sehr zu unterscheiden, welches Dädalus nach dem Egyptischen bei Knossus erbaute, und das zu des Plinius Zeiten schon lange zerstört war.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 347-348.
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