Reichs-Hofrath

[137] Reichs-Hofrath. Dieser Gerichtshof, welcher seinen Sitz in der Residenz des Kaisers hat, ist nebst dem Reichs-Cammergericht (s. Th. I. S. 213.) das höchste Tribunal des Deutschen Reichs. Die dazu gehörigen Personen sind der Präsident (ein Reichsadlicher), der Reichs-Vicecanzler, der Vicepräsident (dessen Stelle oft unbesetzt bleibt) und 18 Reichs-Hofräthe oder Beisitzer, von denen 12 katholischer und 6 evangelischer Religion sind. Hierzu kommen die sämmtlichen Beamten der Canzlei, welche unter dem Reichs-Vicecanzler stehen, viele Secretaire, Procuratoren und Agenten, nebst einem kaiserlichen Fiscal. Die Vorträge geschehen schriftlich; das Directorium führt der Präsident, und ihm kommt bei vorhandener Stimmengleichheit eine entscheidende Stimme zu. Der Reichs-Hofrath entscheidet selbst, ohne Mitwirkung des Kaisers; und bloß in sehr wichtigen Sachen erläßt er an ihn ein Votum oder Gutachten, worauf der Kaiser mit Zuziehung einiger Mitglieder den Beschluß abfaßt. Die Prozeßform ist fast ganz nach der Reichs-Cammergerichts-Ordnung gemodelt. Da dieses Collegium mit dem Kaiser in weit nähern Verhältnissen steht, als das Reichs-Cammergericht, auch zugleich seinen geheimen Rath in Reichssachen bildet; so werden dessen Sitzungen alle Mahl durch den Tod des Reichsoberhaupts unterbrochen, und bleiben bis zur neuen Wahl ausgesetzt. Alle Reichslande erkennen den Reichs-Hofrath und das Reichs-Cammergericht als ihre höchsten Gerichte an, diejenigen ausgenommen, deren Beisitzer das Privilegium de non appellando haben, d. h. das Vorrecht, daß von ihren höchsten Entscheidungen dem Unterthan keine Appellation an die Reichsgerichte verstattet wird. Dieses Recht genießen alle Churfürsten, und auch einige Fürsten, z. B. die Hessischen Häuser, und Schweden wegen seiner Reichslande. – Beide Justizbehörden erkennen in letzter Instanz; man darf sich also nicht von einem derselben an das andere wenden: jedoch ist neuerlich in Sachen, die einen Reichsstand selbst oder das Interesse des Ganzen betreffen, ohne ausdrückliches Gesetz der Recurs an den Reichstag aufgekommen, welcher darin besteht, daß man seine Beschwerden dem Reichstage vorträgt, und denselben um Verfugungen zu deren Abstellung bittet. In eigentlichen Justizsachen ist es ganz den Parteien [137] überlassen, vor welchem von beiden Gerichten sie ihre Rechte durchsetzen wollen: allein über andere Gegenstände entscheiden einzig und allein der Reichs-Hofrath mit Ausschluß des Reichs-Cammergerichts; und hierher rechnet man 1) alle Rechtssachen der Italiänischen Vasallen (welche jedoch seit dem Frieden von Campo Formio weggefallen sind), 2) alle Lehnssachen, 3) alle Resetvatrechte des Kaisers, d. h. diejenigen Rechte, deren Ausübung ohne Mitwirkung der Reichsstände ihm vermöge der kaiserlichen Machtvollkommenheit zusteht. Man nennt sie auch Gnadensachen, weil die meisten derselben in Verleihung einer Gnade bestehen; und sie machen einen Hauptzweig der Einkünfte des Kaisers aus. In diese Classe gehören vorzüglich die den Reichsständen und ihrer Famalie ertheilten Mündigsprechungen, Adoptionen, Legitimationen ihrer Kinder, Anstandsbriefe gegen ihre Gläubiger, und Bestätigungen der reichsständischen Familienverträge, ferner gewisse Privilegien, z. B. über Messen, Universitäten, Bücher, Ertheilung des Stapelrechts u. s. w. sodann Belehnungen mit Reichslehen, Ernennung der Pfalzgrafen, Standeserhöhungen, mithin auch Verleihung des hohen und niedern Reichsadels, Verleihung von Wapen, und endlich Beilegung von Rangstreitigkeiten unter den Reichsständen. – Die Vollstreckung der Urtheile und Befehle beider Gerichte geschieht durch Aufträge, die deshalb an die Directoren der Deutschen Kreise gelangen, und bei dem Reichs-Hofrathe Executions-Commission, bei dem Reichs-Cammergerichte aber Executions-Mandate heißen. – Noch müssen wir über den Ursprung und die Geschichte des Reichs-Hofraths einiges anführen. Maximilian I. legte 1501 enen Gerichtshof für seine Erblande unter dem Namen eines Hofraths an, durch welchen auch die ihm als Kaiser zukommenden Reservatrechte ausgeübt wurden. Die damahls noch äußerst mangelhafte Verfassung des erst 1495 gestifteten Reichs-Cammergerichts war Ursache, daß sich die Parteien auch in eigentlichen Justizsachen mit gänzlicher Uebergehung dieses höchsten Gerichts häufig an den Hofrath verwandten, und daß dieser bald dem Reichs-Cammergericht völlig gleiche Gewalt bekam. Die Zahl der Rechtssachen wuchs so sehr, daß Kaiser Ferdinand I. 1559 aus diesem Hofrathe zwei besondere [138] machte, nehmlich einen bloß für die Erblande, und einen Reichshofrath bloß für Deutschland. Letzterer bekam in eben diesem Jahre ein eignes Gesetz über seine Verfassung und Prozeßform unter dem Titel Reichshofraths-Ordnung. Der Widerspruch der Stände und des Cammergerichts gegen dieses neue Tribunal wurde durch den Westphälischen Frieden 1648 gehoben; und 1645 wurde von Ferdinand III. eine neue Reichshofraths-Ordnung publicirt, welche noch jetzt, in Verbindung mit den Zusätzen, die 1714 durch ein Decret Carls VI. hinzukamen, das Grundgesetz des Gerichtshofs ist. Da aber gegen dieselbe viele Beschwerden einliefen: so wurde sie in der Wahlcapitulation Carls VII. 1742 nur provisorisch anerkannt; und man beschloß, eine neue, ganz vollständige, den Zeitumständen angemeßnere abzufassen, welche jedoch bisher noch nicht erschienen ist.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 137-139.
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