12. Das Trihäresion.

[689] Es ließe sich eine ansehnliche Bibliothek von dem anfüllen, was über die sogenannten drei Sekten: Pharisäer, Sadducäer und Essäer, geschrieben worden ist, und doch sind bei aller Gelehrsamkeit, die darauf verwendet worden, ihre Grundeigentümlichkeiten und ihre gegenseitigen Differenzen noch nicht genug erkannt, ja sie sind geradezu verkannt worden. Die Hauptveranlassung der Verkennung liegt unstreitig daran, daß man sie vom Gesichtspunkte des dogmatischen Sektenwesens beurteilt und den Maßstab kirchlicher Häresien an sie anlegt, wozu Josephus allerdings verleitet hat. Diese Beurteilung parallelisiert nämlich die Sadducäer mit den Karäern – abgerechnet einige geringe Besonderheiten – die Essäer etwa mit den gnostischen Enkratiten und die Pharisäer, wer kennt sie nicht? Das waren Scheinheilige, Heuchler, die mit ihren Gebetmänteln und Gebetriemen in den Straßen Jerusalems einherstolzierten und die Augen verdrehten! Nahm man noch die Sekten der Galiläer, der Zeloten, der Herodianer und der Samaritaner und die Untersekten derselben hinzu, so hatte man einen vollständigen Ketzerkatalog, wie ihn Eusebius und Epiphanius aufstellten, und ein Thema, über die Zerrissenheit des Judentums in der vorchristlichen Zeit zu predigen, und konnte die erbaulichsten Konsequenzen daraus ziehen. Aber wer mit einem solchen Maßstabe an die Beurteilung der [689] Epoche der Blütezeit dieser Sekten geht, dem ist sie ein Buch mit sieben Siegeln. Die Pharisäer hatten ebensowenig Verwandtschaft mit den Jüngern Loyolas, wie mit den Stoikern, mit welchen sie Josephus zu vergleichen beliebt (Vita 1). Und ebenso hinkend ist der Vergleich der Sadduzäer mit den Karäern und der Essäer mit den Pythagoräern oder den mönchischen Asketen. Halten wir uns auch hier an die ersten Quellen, die uns den besten Aufschluß über diese Sekten oder richtiger Parteien, im Zusammenhang mit der Geschichte dieser Epoche, geben werden. In jüngster Zeit kam eine neue Verkennung der Sadducäer hinzu. A. Geiger, der nie ein glückliches historisches Aperçu gehabt hat, stellte die unglückliche Idee auf, daß die Sadducäer von den priesterlichen קודצ ינב stammten, wofür er aber auch nicht ein einziges stichhaltiges Argument beizubringen vermochte. Er gelangte dadurch zu ganz verkehrten Konsequenzen und zur Mißdeutung klarer Schriftverse. Seltsam ist es, daß ernste Forscher ihm auf diesen Irrweg gefolgt sind, obwohl Geigers Busenfreund H. Schorr diesen Einfall mit gewichtigen Gründen als unhaltbar nachgewiesen hat. Vergl. Chaluz, Jahrg. IV, S. 7699.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 689-690.
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