Die Kimmerier in Kleinasien

[131] Mächtiger als je zuvor stand um 660 v. Chr. das Assyrerreich da. In Babel gebot ein Bruder des Königs, in Ägypten war die Schar der kleinen Fürsten tributpflichtig; Syrien, Mesopotamien, die östlichen Gebirgslande, dazu die Grenzgebiete Armeniens und Kleinasiens waren dem Reich unmittelbar einverleibt. Eine gefährliche Erhebung schien nirgends zu befürchten. Wenige Dezennien später war der stolze Bau vom Erdboden verschwunden. Zu seinem Sturze haben zwar auch die besiegten Nationen wenigstens zum Teil beigetragen, aber der erste Anlaß wie die entscheidenden Schläge sind von außen durch die großen Völkerbewegungen [131] herbeigeführt worden. Die Wirkungen derselben treten uns überall deutlich entgegen; ihr Gang im einzelnen ist, wie erwähnt, fast völlig in Dunkel gehüllt. Es war eine Völkerwanderung wie die der Nordstämme, welche im 12. Jahrhundert Syrien durchzogen, wie die der Galater, die im 3. Jahrhundert bis nach Kleinasien vordrangen und hier ganz ähnlich hausten wie die Kimmerier. Zweifellos sind die einbrechenden Stämme von Weib und Kind begleitet gewesen und haben alle ihre Habe mit sich geführt.

Die Aufschlüsse, die sich den vereinzelten Erwähnungen in den assyrischen Quellen über den Verlauf der Invasion der Kimmerier entnehmen lassen, sind bereits oben (S. 73ff.) zusammengestellt worden. Wie es scheint, hat sich ein Teil der kimmerischen Scharen in den Gebirgslanden im Nordosten Assyriens festgesetzt, wo sie Assarhaddon unter den Kriegsvölkern des Kastarit von Karkassi (o. S. 75) nennt. Die Hauptmasse jedoch wandte sich nach Westen. Daß der Schauplatz des Sieges, den Assarhaddon im J. 679 über den Kimmerier Teuspâ errang, etwa in Kappadokien zu suchen ist, wurde schon gesagt (o. S. 74). Als Hauptsitz der Kimmerier wird Sinope bezeichnet; sie sollen hier den Führer der milesischen Ansiedlung, Abrondas (?), erschlagen haben (vgl. o. S. 74)262. Aristoteles263 berichtete, daß die Lelegerstadt Antandros am Südabhang des Ida von Edonern und 100 Jahre lang von Kimmeriern besetzt gewesen sei; ähnlich sollen in Abydos264 vor der Kolonisierung durch Milet Thraker gewohnt haben, die ja in Verbindung mit den Kimmeriern erscheinen. Als die Kimmerier in Phrygien einbrachen, gab sich der letzte König Midas, der Sohn des Gordias, den Tod, indem er, wie berichtet wird265, Stierblut trank (o. S. 74); seitdem verschwindet das phrygische Reich aus der Geschichte.

[132] Wie gegen Phrygien richteten sich die Züge der Kimmerier auch gegen Lydien. Hier war um dieselbe Zeit der letzte Heraklide, Kandaules oder Sadyattes, einer Palastrevolution zum Opfer gefallen; sein Mörder Gyges, der Sohn des Daskylos, aus dem angesehenen, schon seit Generationen mit den Herakliden zerfallenen Geschlechte der Mermnaden, hatte sich des Thrones bemächtigt und war von den Lydern anerkannt worden, nachdem sich das delphische Orakel, dem man die Entscheidung überließ, zu seinen Gunsten ausgesprochen hatte266. Der neue Herrscher scheint ein tüchtiger Krieger gewesen zu sein. Nach einer Notiz war ihm ganz Troas untertänig (Strabo XIII, I 22); mithin muß er auch die teuthranische Küste besessen haben. Daß die karischen Gaue, wenn nicht seinen Vorgängern, so doch ihm gehorchten, scheint zweifellos. Auch die griechischen Küstenstädte hat er angegriffen und Kolophon erobert. Um sich der Kimmerier zu erwehren, huldigte er dem Assyrerkönige Assurbanipal. Dieser berichtet, daß Gyges (assyr. Gugu) infolgedessen einen großen Sieg über die Kimmerier erfochten und zwei ihrer Häuptlinge gefangen nach Ninive geschickt habe (s.o. S. 86).

Die dem Assyrerkönige geleistete Huldigung war nicht mehr als ein augenblicklicher Notbehelf. Sobald sich Gyges gegen die Kimmerier sicher fühlte, begann er vielmehr Maßregeln gegen die assyrische Übermacht, die leicht auch den bisher nicht bekriegten Gebieten Kleinasiens gefährlich werden konnte, zu ergreifen. Er verband sich zu dem Zwecke mit Psammetich von Sais, der sich gegen Assyrien empört hatte (u. S. 145), und schickte ihm griechische und karische Söldner zur Unterstüzung. Assurbanipal, durch seine elamitischen Kriege vollauf in Anspruch genommen, konnte nicht gegen ihn einschreiten. Aber bald darauf erschienen [133] die Kimmerier aufs neue in Lydien: Gyges selbst fiel im Kampf, das ganze Land wurde von den wilden Horden überschwemmt, Sardes mit Ausnahme seiner festen Burg erobert. Dann griffen sie die griechischen Küstenstädte an. In Ephesos feuerte der Dichter Kallinos zum Widerstande an, und es gelang, den Angriff des Kimmerierfürsten Lygdamis267 abzuschlagen, während der außerhalb der Stadt gelegene Artemistempel allerdings verbrannt wurde. Dagegen wurde die blühende Stadt Magnesia am Mäander von den Treren, einem thrakischen268 Stamm, der sich den Kimmeriern angeschlossen hatte, erobert und zerstört. Indessen auf eine dauernde Behauptung des ausgeplünderten Gebietes verstanden sich die wilden Scharen sowenig, wie auf eine regelrechte Belagerung der festen Städte und Burgen. Ardys, der Sohn des Gyges, behauptete schließlich das Reich seines Vaters, und wenn uns berichtet wird, daß er die Griechen angegriffen hat, so muß er vorher die Kimmerier zurückgeworfen und sich den Rücken gedeckt haben. Assurbanipal erzählt, daß er die Sünden seines Vaters bereut und ihm durch eine Gesandtschaft aufs neue gehuldigt habe (nach 646 v. Chr.); indessen mehr als die Wiederherstellung guter Beziehungen zu Assyrien ist darin gewiß nicht zu sehen269.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 131-134.
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