Älteste einheimische Kulturentwicklung

[466] Viel größer als in Griechenland der Einfluß des Orients ist in Italien der der Griechen, weit geringer die Selbständigkeit der Entwicklung der einheimischen Stämme. Mit dem Eintritt in die Geschichte erfahren sie zugleich die Einwirkung einer immer reicher sich ausbildenden Kultur, die von Jahrhundert zu Jahrhundert nachhaltiger wird. Wohl haben auch sie eigenes bewahrt und hinzugefügt, aber nie hat sich ihre Kultur so wie die griechische von der Fremde emanzipiert und unabhängig ihr gegenübergestellt. Die Ansätze einheimischer Entwicklung, die wir auch in Italien [466] in Institutionen und Kulten und in den monumentalen Überresten der älteren Kultur erkennen, sind nicht zu voller Entfaltung gelangt. Es kommt hinzu, daß eine einheimische Literatur und einheimische Geschichtsüberlieferung sich in Italien erst sehr spät und durchweg nur in Nachahmung der griechischen Vorbilder entwickelt hat und daß sie uns nur für eine einzige Gemeinde, Rom, erhalten sind. Daher läßt sich ein ausreichendes Bild des älteren und besonders des vorgriechischen Italiens nicht gewinnen; nur die allgemeinsten Umrisse vermögen wir aus unserem trümmerhaften Material zu erkennen716.

Auch auf italischem Boden sind von der Entwicklungsreihe, welche jeder zu höherer Zivilisation gelangte Volksstamm durchgemacht hat, von den rohesten unpolierten Steinwaffen und Werkzeugen bis zum ausgebildeten Kupfer- und Eisengerät, von den unbeholfenen, mit der Hand geformten Tongefäßen bis zu sorgfältig auf der Drehscheibe gearbeiteten Vasen mit reicher Ornamentation, zahlreiche Überreste bewahrt, in der Poebene und im Gebiet von Bologna, in Etrurien und Latium, im Prätuttiergebiet (Valle della Vibrata bei Teramo), in Apulien und wenigstens in den späteren Schichten auch auf Sizilien. Aus der im allgemeinen überall gleichförmigen Masse sondern sich einzelne lokale Gruppen ab. So haben sich in den Flußtälern und an den Seen der Poebene zahlreiche Überreste alter Pfahldörfer erhalten, die von Wall und Graben umgeben und nach den Himmelsrichtungen orientiert waren. In einem ebenen, von Wald und Sumpf bedeckten Gebiet, das Schritt für Schritt, zunächst dem Lauf der Flüsse folgend, der Kultur erobert werden mußte, bedurfte die menschliche Ansiedlung eines künstlichen Schutzes gegen die ungeregelten, oft stark anschwellenden Wassermassen, den in gebirgigen Gegenden die Natur selbst durch Hügel und Felskuppen gewährt. Die Zivilisation, die wir hier kennenlernen, unterscheidet sich in nichts von den gleichzeitigen Ansiedlungen in Latium oder in Apulien. Sie entspricht etwa der trojanischen Kulturschicht im Bereich des Ägäischen [467] Meers. Die Verwendung der Metalle beginnt, die Arbeiten aus Knochen und Ton zeigen die ersten Ansätze zu einer Dekoration mit Strichen und Kreisen, zahlreich finden sich auch hier die sogenannten Spinnwirtel, kleine durchbohrte Kegel und Kugeln, zuweilen mit linearer Dekoration. Auch sonst ist diese Kultur trotz der allgemeinen Übereinstimmung roher und weit weniger individuell gestaltet als die trojanische. Sie mag bis etwa zur zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. hinabreichen. Irgendwelchen Anhalt, ihre Träger ethnographisch zu bestimmen, haben wir nicht; die Annahme, damals hätten die Italiker noch ungeteilt in den Pfahldörfern des Polandes gesessen, ist völlig unwahrscheinlich (Bd. I, 884. II 1, S. 573f.)717.

Während die Bewohner der Poebene vielleicht bis ins 6. Jahrhundert hinab auf dieser Kulturstufe stehen blieben, sind die Länder zu beiden Seiten des umbrischen Apennin weiter vorgeschritten. Wie die mykenische steht auch ihre Kultur unter der Herrschaft der Metalltechnik. Die reichen Kupferschätze Etruriens liefern ein [468] Metall, dessen Bearbeitung eine volle und vielseitige Ausbildung der Formensprache schafft; daneben sind auch die Eisengruben von Elba frühzeitig bearbeitet worden. Wie in Griechenland werden auch in Italien die Formen des Kupfers auf den Ton übertragen, und hier wie dort liegen uns die Tonwaren früher und zahlreicher vor als ihre Muster in dem kostbaren, als Wertstück lange bewahrten Metall. Hierher gehören vor allem die etruskischen Kannen und Krüge aus schwarzem Ton (vasi di bucchero), die sich von den griechischen scharf durch ihren plastischen Schmuck unterscheiden, eben dadurch aber zugleich als Nachahmung getriebener Bronzegefäße verraten. Ferner die großen Urnen aus den Grabschächten (tombe a pozzo), welche die Asche und Gebeine der Toten aufnahmen und mit unförmigen Schalen zugedeckt wurden; ihre phantastischen Formen stehen vielfach mit dem Wesen des Tons in scharfem Widerspruch – es ist bezeichnend, daß man sich auch hier für das Grab an der billigeren Ware genügen ließ. In südetruskischen und latinischen Gräbern vertreten ihre Stelle mehrfach Hausurnen, Nachahmungen der ovalen, aus Balken und Lehm aufgeführten runden oder ovalen Hütten – das älteste italische Haus ist ein Rundbau; daher haben die ältesten Heiligtümer, so das der Vesta, immer diese Form bewahrt. Auf diesen Gefäßen entwickelt sich eine reiche geometrische Dekoration, nahe verwandt, doch nicht identisch mit der, welche in der griechischen Welt nach der mykenischen Zeit zur Herrschaft kommt – ein Gegenstück zu dem reichen Leben der mykenischen Dekoration fehlt dagegen in Italien vollständig. Ihre Anfänge sind bereits in den Terramaren erkennbar; schrittweise hat sie sich aus dürftigen Ansätzen zu einem durchgebildeten System linearer Ornamentik entwickelt. Das Metall ist vor allem durch zahlreiche Heftnadeln (Fibeln), zum Teil in den seltsamsten phantastischen Formen, vertreten, ferner durch Äxte, Schwerter, Lanzenspitzen, Messer, Pferdegebisse, Gürtel u.a., die man dem Toten mit ins Grab gab; auch hier findet sich teilweise dieselbe Ornamentik. Daneben lebt die ältere Weise in den bizarren Formen mancher Tongefäße der ältesten Gräber Etruriens fort, die mehrfach so auffallend mit trojanischen und cyprischen Gefäßen übereinstimmen, daß die Annahme [469] einer kommerziellen Verbindung kaum zu umgehen ist. Die Anfänge dieser Kultur reichen weit über das Jahr 1000 v. Chr. hinauf, östlich vom Apennin hat sie sich bis ins 5. Jahrhundert erhalten. Lokale Variationen, z.B. in den Motiven der Dekoration, finden sich vielfach; aber im wesentlichen bietet die äußere Gestalt der Zivilisation Italiens von Bologna bis ans Volskergebirge und vermutlich noch weiter abwärts bis auf den Beginn des griechischen Einflusses einen einheitlichen Anblick, so verschiedenartig auch ethnographisch ihre Träger gewesen sind718.

Ob die phönikischen Seefahrer gelegentlich auch die Küsten Italiens aufgesucht haben, läßt sich nicht erkennen. Bereits in sehr alten Gräbern von Tarquinii finden sich vereinzelt ägyptische Objekte, darunter ein Skarabäus Sebekḥoteps IV. (Bd. I, 287.), die auch durch andere Vermittler hierhergekommen sein können (Bd. II 2, 107). Der innere Tauschverkehr umfaßt ganz Italien. Sehr früh wird neben dem Vieh (pecunia) das Kupfer, das eigentlich [470] nationale Metall, der allgemeine Wertmesser (aestimare, Bezahlung per aes et libram; das Kupferpfund, lat. libra, sic. λίτρα, mit der Unze als Unterabteilung, u. S. 494). Die Einteilung des Pfundes in Zwölftel ist spezifisch italisch, ebenso sind die Zahlzeichen I V X wahrscheinlich bereits vor dem Eindringen der griechischen Schrift im italischen Handelsverkehr erfunden; sie sind von den in Griechenland und im Orient gebräuchlichen Zifferzeichen dem Prinzip wie der Gestalt nach charakteristisch verschieden (MOMMSEN, Hermes 22. 23).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 466-471.
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