Brasidas in Thrakien

[116] Die Spartaner haben das Umsichgreifen Athens, die Schläge, die ihr eigenes Land und ihre Bundesgenossen, vor allem Korinth, wieder und wieder trafen, über ein Jahr lang ertragen, ohne sich ernstlich zu wehren. Hatten sie während des ganzen Krieges erwiesen, wie wenig ihr Staatswesen den Erwartungen der Hellenenwelt entsprach und für die Durchführung einer großen Politik geschaffen war, so waren sie seit der Katastrophe von Sphakteria vollends in dumpfe Resignation versunken. Da Athen ihnen den Frieden nicht gewährte, den sie ersehnten, setzten sie sich notdürftig zur Wehr, wo es sein mußte, und ließen im übrigen geschehen, was das Schicksal verhängte. Sie aus dieser Lethargie aufgerüttelt zu haben, ist das Verdienst des Brasidas, des Sohnes des [116] Tellis. Er war die einzige militärisch wie politisch bedeutende Persönlichkeit, die Sparta in dieser Zeit besaß, von unerschrockener Tapferkeit und voll von Unternehmungsgeist und kühnen Entwürfen. Im Jahre 431 hat er den Ort Methone beim Angriff der athenischen Flotte gerettet. Im nächsten Jahr (431/0) wurde er Ephor128. Soweit immer seine Stellung es erlaubte, hatte er die schlaffe Kriegsführung Spartas zu beleben versucht; er war die Seele fast aller Offensivstöße gewesen, die es unternahm, 429 beim Angriff auf Phormio und beim Versuch, den Piräus zu überfallen, 427 beim Zug nach Korkyra; und immer waren sie wesentlich daran gescheitert, daß er dem Höchstkommandierenden nur beigeordnet war und dieser seinem Rat nicht zu folgen wagte. Beim Angriff auf Demosthenes' Stellung in Pylos (425) war er der erste, der sein Schiff auf die Felsen auflaufen ließ und ans Ufer zu springen suchte; dabei brach er schwer verwundet zusammen. Jetzt erkannte er, daß Sparta, wenn es sich behaupten wolle, sein Heerwesen vervollständigen und seine Kriegsmittel erweitern und dann einen entscheidenden Gegenzug ausführen müsse. Ohne Zweifel geht es auf seine Initiative zurück, wenn Sparta jetzt nach athenischem Muster 400 Reiter und ein Schützenkorps ins Feld stellte; letztere waren wohl aus den Periöken genommen. Eine gewaltige Vermehrung der Kriegsmacht wäre möglich gewesen, wenn man sich getraut hätte, die Heloten in Masse zu bewaffnen. Aber das durfte man seit der Besetzung von Pylos und Kythera noch weniger wagen, wo man vielmehr jeden Augenblick einen neuen Aufstand der Leibeigenen befürchten mußte. Und doch konnte man diese Elemente jetzt nicht mehr ganz entbehren. So ging man mit äußerster Vorsicht und zugleich mit der in der Behandlung der Heloten bereits eingewurzelten Perfidie (s. Bd. IV 1, 441.) vor. Alle, welche glaubten, durch tapfere Dienste im Gefolge ihrer Herren die Freiheit verdient zu haben, wurden aufgefordert, sich zu stellen; als sich deren gegen 2000 gemeldet hatten, wurden sie sämtlich beseitigt. Eine Anzahl zuverlässiger Heloten dagegen hat man als »Neubürger« (νεοδαμώδεις – das Wort erscheint jetzt zum ersten Male) freigelassen und [117] bewaffnet129, und weiter ein Korps von 700 Heloten ausgehoben, das als Hopliten ausgerüstet und dem Brasidas zur Verfügung gestellt wurde. Dazu erhielt er die Erlaubnis, 1000 Söldner im Peloponnes anzuwerben. Mit den Truppen, die er schon zusammengebracht hatte, hat er, unterstützt von dem Landsturm der Nachbarstaaten, den Hilfszug nach Megara ausgeführt (s.S. 111). Seine Absicht war, sich ganz unerwartet auf die thrakischen Besitzungen Athens zu werfen und dem Perdikkas sowie den aufständischen Chalkidiern die Hand zu bieten.

Athen hatte seit dem unglücklichen Treffen bei Spartolos 429 und dem Scheitern des Zuges des Sitalkes die Dinge in Trakien stark vernachlässigt. Zwar haben wohl regelmäßig attische Strategen hier gestanden, und kleinere Scharmützel sind öfter vorgekommen; aber mit der Einnahme Potidäas schien das Notwendigste getan, die Unterwerfung der Chalkidier auf dem Rumpf der Halbinsel mochte, da sie bei den ersten Versuchen nicht geglückt war und viel Geld und ein starkes Heer erforderte, auf gelegenere Zeit vertagt werden. Zu Perdikkas war das Verhältnis trotz des Friedens von 431 (s.S. 37) immer gespannt; fortwährend klagte Methone über makedonische Übergriffe und gingen Gesandtschaften zwischen Athen und dem König hin und her; im Jahre 429 gewährte er den Feinden Athens insgeheim Unterstützung (s.S. 64). »Von Perdikkas kommen ganze Schiffsladungen voll Lügen«, sagt der Komiker Hermippos (fr. 63, 8). Bei den Thessalern hatte er großen Einfluß; daß sie Athen nach dem Feldzug von 431 keine weitere Unterstützung gewährten, wird wesentlich sein Werk sein. Jetzt hoffte er mit Spartas Hilfe den rebellischen Lynkestenfürsten Arrhabaios im oberen Makedonien zu besiegen. Zugleich baten die Chalkidier in Sparta dringend um Unterstützung, da sie bei dem jetzigen Übergewicht Athens binnen kurzem erdrückt zu werden fürchteten. Beide verpflichteten sich, je die Hälfte der Kosten der [118] Expedition zu tragen130. – Kurz nach den Kämpfen um Megara, etwa im September 424, brach Brasidas mit seinen 1700 Hopliten auf. Bis Heraklea Trachinia ging der Marsch durch Freundesland; die Thessaler dagegen machten Miene, ihm den Weg zu sperren. Aber durch Perdikkas' Vermittlung hatte er bereits überall Verbindungen angeknüpft und Gesinnungsgenossen zu Führern gewonnen, die ihn rasch, ehe ein entscheidender Beschluß zustande kam, durch das Land hindurch nach Makedonien geleiteten. Perdikkas verlangte, er solle sofort mit ihm gegen Arrhabaios ziehen; aber Brasidas, der durchaus nicht gesonnen war, sich zu der Rolle eines makedonischen Söldnerführers zu degradieren, vermittelte statt dessen, sehr gegen den Willen des Königs, einen Waffenstillstand und wandte sich ins chalkidische Gebiet. Die Athener schickten sofort Truppen nach Thrakien und erklärten Perdikkas den Krieg; aber sie waren völlig überrascht und außerstande, ihre ausgedehnten Besitzungen zu schützen, zumal sie gleichzeitig mit aller Macht an den Angriff auf Böotien dachten. Die Demokraten hielten meist zu ihnen, aber wo die Feinde vor den Toren standen, gewannen vielfach die Gegner die Oberhand, zumal Brasidas durch sein uneigennütziges und humanes Verhalten und zugleich durch seine kühne und energische Persönlichkeit ganz im Gegensatz zu der sonstigen Art der spartanischen Feldherren die Herzen für sich gewann: er erklärte, lediglich gekommen zu sein, um das zu Anfang des Krieges verkündete Programm der Befreiung aller Hellenen zur Wahrheit zu machen, und forderte alle auf, an dem gemeinsamen Werk mitzuarbeiten. Durch hohe Eide habe er die Magistrate in Sparta verpflichtet, die Autonomie aller Gemeinden, die sich ihm anschlössen, unangetastet zu lassen; von Revolutionen und gewaltsamen Verfassungsänderungen solle keine Rede sein, das sei vielmehr die Art der athenischen Herrschaft, die Sparta bekämpfe. So gewann er zuerst Akanthos oberhalb der Athoshalbinsel, dann [119] weiter nördlich Stagiros. Von hier wandte er sich zu Anfang des Winters, um die Zeit der Schlacht bei Delion, gegen Amphipolis, die weitaus bedeutendste aller athenischen Besitzungen in Thrakien. Die Stadt schien durch ihre Lage jenseits des Strymon, unweit des Hafenortes Eïon, auf einem Plateau, das der Fluß auf drei Seiten umströmt, während die vierte durch eine Mauer geschützt war, gegen jeden feindlichen Angriff gesichert. Aber unter den Einwohnern bildeten die Athener weitaus die Minderheit; die übrigen Kolonisten waren mindestens unzuverlässig, ähnlich wie in Thurii. Brasidas knüpfte insgeheim Verbindungen an, die Argilier an der Küste westlich vom Strymon, immer den Athenern aufsässig, unterstützten ihn; so gelang es ihm bei Nacht die außerhalb der Stadt gelegene Strymonbrücke zu überrumpeln und nicht wenige der völlig überraschten Bürger vor den Toren abzufangen. Der athenische Strateg Eukles, der in der Stadt kommandierte, sandte schleunigst Botschaft an Thukydides – den Historiker –, der zur Deckung der Küstenorte mit sieben Schiffen bei Thasos stationiert war. Aber ehe dieser heraneilte, hatte sich Amphipolis dem Brasidas ergeben. Den Athenerfreunden wurde freier Abzug gewährt, die übrigen gaben sich bald mit vollem Eifer der Sache der Unabhängigkeit hin. Den Hafen Eion gelang es Thukydides zu retten; aber ein Heer, mit dem er dem Feinde hätte entgegentreten können, besaß er nicht, und so fielen die übrigen Orte am Fuß des Pangaion meist in Brasidas' Hände131.

Der Eindruck des Verlustes von Amphipolis war gewaltig: nach so vielen Niederlagen zum ersten Male wieder seit der Einnahme Platääs ein Erfolg Spartas, und zwar einer, der zugleich durch keinen Flecken getrübt war und einen wirklichen militärischen und politischen Gewinn von größter Tragweite enthielt. Mit scharfem Blick hatte Brasidas den wundesten Punkt der attischen Machtstellung [120] erkannt und durch kühne Benutzung der gegebenen Chancen Athen einen Schlag zugefügt, den es nie wieder hat ausgleichen können. Jetzt endlich war das Werk der Befreiung wirklich begonnen; überall gärte es unter den Bündnern, zumal Athens Herrschaft jetzt seit der Erhöhung der Tribute doppelt schwer auf ihnen lastete; überall hoffte man auf baldige Befreiung von dem verhaßten Joch. Brasidas hätte noch weit mehr erreichen können, wenn nicht Kleinmut und Neid die Nachsendung von Truppen aus Sparta hintertrieben hätte. Auch so aber schritt er während des Winters 424/3 weiter von Erfolg zu Erfolg. Zunächst gewann er die meisten Ortschaften auf der Athoshalbinsel, mit Ausnahme von Sane und Dion; dann nahm er Torone, die größte Stadt der mittleren chalkidischen Landzunge (Sithonia), durch Verrat und nächtlichen Überfall; die kleine attische Garnison wehrte sich tapfer in der Burg, mußte aber schließlich auf die See flüchten. Athen besaß jetzt von seiner thrakischen Provinz im wesentlichen nur noch Methone an der makedonischen Küste, die durch die Kolonisten in Potidäa gegen einen Angriff zu Lande geschützte Halbinsel Pallene, Eïon, Thasos und die Küste östlich von der Nestosmündung.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 116-121.
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