Das erste Kriegsjahr

[32] Für den Einfall in Attika war der Anfang des Sommers (Mitte Mai) in Aussicht genommen, wo das Getreide in Reifestand32. Dann konnte man, wenn die Athener keine Schlacht lieferten, das Land gründlich verwüsten, und noch rechtzeitig für die Erntearbeiten daheim, die in Arkadien einige Wochen später begannen als in der attischen Ebene, nach Hause zurückkehren. Aber die Thebaner konnten sich so lange nicht gedulden; sie brannten vor Begierde, sich in den Besitz Platääs zu setzen und damit die Einigung Böotiens unter ihrer Führung zu vollenden, noch ehe der Krieg offiziell erklärt war. In Platää hatten sie Verbindungen angeknüpft; in einer mondlosen und dunklen Nacht zu Frühlingsanfang, in den ersten Tagen des März 431 v. Chr., drang eine Schar von über 300 Thebanern unter Führung zweier Böotarchen in die ahnungslose Stadt ein und besetzte den Markt. Aber man scheute sich, sofort zum Werk zu schreiten und die Gegner in ihren Häusern niederzumachen; man wünschte den freiwilligen Anschluß der Stadt zu erreichen. Im ersten Augenblick schien die Bürgerschaft, die sich verloren wähnte, dazu bereit und begann zu verhandeln. Darüber [33] verstrich der günstige Moment. Die Platäer erkannten die geringe Zahl der Eingedrungenen und faßten Mut; sie sammelten sich zu größeren Scharen, sperrten die Zugänge zum Markt und gingen in der ersten Morgendämmerung zum Angriff vor. Der Haufe der Thebaner stob auseinander, viele wurden durch die Straßen irrend niedergemacht, nur wenigen glückte es zu entkommen; den übrigen, 180 Mann, blieb nichts übrig, als die Waffen zu strecken. Der verabredete Sukkurs von Theben traf infolge heftiger Regengüsse zu spät ein und konnte nicht mehr viel ausrichten. Um ihr Gebiet und die Bevölkerung vor den Toren zu retten, versprachen die Platäer, die Gefangenen zu schonen; als aber das thebanische Heer im Vertrauen darauf abgezogen war, machten sie sie sämtlich nieder. Eine Botschaft von Athen, welche dringend vor übereilter Gewalttat warnte, kam zu spät33.

Damit war der bisher noch zu Recht bestehende Friedenszustand offenkundig gebrochen, mit schnöder Verletzung des Völkerrechts; die Platäer aber hatten durch ihre blutige Antwort selbst die Rache der Feinde über sich heraufbeschworen. Auf die Kunde von dem Ereignis setzte man sich auf beiden Seiten in Kriegsbereitschaft. Die Athener nahmen alle in Attika anwesenden Böoter fest und begannen ihre Habe vom Lande in die Stadt zu schaffen. Die Peloponnesier erließen eine Art Kontinentalsperre gegen Athen: alle Kaufleute nicht nur aus Athen, sondern auch aus neutralen Häfen, die ihnen mit ihren Schiffen in die Hände fielen, wurden als Feinde getötet und ihre Leichen wie die von Verbrechern in die Schluchten geworfen, die als Schindanger dienten. Erst in den späteren Jahren des Krieges ist man von dieser barbarischen Praxis abgegangen. Außerdem wurden Kaper ausgesandt, die attische Schiffe aufzubringen und namentlich Athens Handel mit dem Orient zu stören suchten34; an der asiatischen Küste fanden sie in den Samiern von Anaia (Bd. IV 1, 716) eine wirksame Unterstützung. – Inzwischen sammelte sich das verbündete Heer am Isthmos; [34] König Archidamos über nahm das Kommando (Anfang Mai 431). Er hoffte auch jetzt noch den Krieg beilegen zu können und sandte einen Herold an Athen, der jedoch auf Perikles' Antrag ungehört abgewiesen wurde. Perikles befürchtete, die Spartaner würden die Verhandlung nur zu Anknüpfungen mit seinen Gegnern benutzen; für den Fall, daß sie versuchen sollten, ihn dem Volke verdächtig zu machen, indem sie seine Güter unversehrt ließen, erklärte er dieselben für Staatseigentum. Archidamos rückte in Attika ein; aber noch immer operierte er möglichst langsam und bedächtig, in der Hoffnung, daß die Stimmung in Athen doch noch umschlagen könne. So berannte er zunächst ohne Erfolg das Kastell Önoë an der böotischen Grenze; erst um den 25. Mai begann er die systematische Verheerung des Landes, zunächst der Ebene von Eleusis, dann des Kephissosgebietes mit seinen zahlreichen Ortschaften35. Währenddessen war die gesamte Landbevölkerung in die Stadt geflüchtet und suchte hier ein Unterkommen in den Tempeln und auf unbebauten Plätzen der Stadt, zwischen den langen Mauern und im Piräeus; die bewegliche Habe hatten sie auf die Inseln in Sicherheit gebracht. In der Stadt herrschte Belagerungszustand; die gesamte wehrfähige Bevölkerung der drei oberen Klassen und der Metöken, Feldarmee wie Landsturm (Bd. IV 1, 705.), war mobil gemacht. Aber sie wurden nur zur Besetzung der Mauern und zur Sicherung gegen einen etwaigen Handstreich verwendet; ins freie Feld sandte Perikles lediglich die Reiterei, die namentlich die Äcker unmittelbar vor der Stadt schützte und, von den Thessalern unterstützt, den feindlichen Reitern ein paar Scharmützel lieferte, bei denen sie den kürzeren zog. Als so den Athenern der Ernst des Krieges zum Bewußtsein gebracht wurde, als sie ihr Land wirklich, wie Perikles gefordert hatte, den Feinden ohne Schwertstreich preisgegeben sahen, als den in die Stadt zusammengedrängten Bauern die Unbequemlichkeit ihrer Lage und ihrer Notquartiere immer fühlbarer wurde und sie zuschauen mußten, wie ihre Dorfschaften und Gehöfte in Flammen aufgingen, die Felder verwüstet und die[35] Baumpflanzungen, namentlich die Oliven, umgehauen wurden, da brach ihre Erregung mächtig hervor. Laut äußerte sich die Entrüstung über den Feldherrn, der den Krieg herauf beschworen habe und nun sich feige hinter den Mauern verkrieche, wo doch die Stadt von Waffen strotze; war denn ein athenischer Mann, der für seine Heimat und seine Freiheit kämpfte, in der Feldschlacht nicht mindestens ebensoviel wert wie die peloponnesischen und böotischen Adelsknechte, die nur durch den Druck einer von Athen verachteten militärischen Disziplin zusammengehalten wurden? Allen voran gingen die Acharner, die Bewohner einer großen und volkreichen Ortschaft am oberen Kephissos. Die Opposition schürte diese Stimmung, die sie zum Ziele zu bringen schien. Allen zuvor taten es die radikalen Demokraten, die Vertreter einer rücksichtslosen Eroberungspolitik, die sich auf die städtischen Interessen stützten, jetzt aber mit Freuden sahen, wie auch die Landbevölkerung in ihre Forderungen einstimmte. An ihre Spitze trat Kleon, ein reicher Gerbereibesitzer aus dem Zentrum der Stadt, ein echter Dämogoge des Schlages, wie sie vor allem in Kriegszeiten in jeder Demokratie wie Pilze aus der Erde schießen, vollkommen überzeugt, daß wenn nur die Feldherrn ihre Schuldigkeit tun wollten und nicht insgesamt Feiglinge oder Verräter wären, Athen jedem Unternehmen gewachsen sei und in jedem Kampfe siegen müsse. Die Komödien des nächsten Winters brachten den lebendigen Widerhall der damaligen Diskussionen: »König der Satyrn,« so redet Hermippos, ein eifriger Parteigänger der Radikalen (s.S. 2f.), den Perikles an, »was kannst du dich nicht entschließen, die Lanze zu tragen? Gewaltige Reden hältst du über den Krieg, benimmst dich aber wie Teles; und wenn du auch nur einen Dolch auf hartem Schleifstein wetzen hörst, dann knirschst du mit den Zähnen, vom feurigen Kleon gebissen!«36 Aber Perikles ließ sich nicht erschüttern, er machte Gebrauch von der vollen Amtsgewalt des leitenden Strategen in Kriegszeiten, ließ keine Volksversammlung zusammentreten, [36] duldete keine Zusammenrottungen, hielt die Armee streng auf ihren Posten und ging im übrigen, unbekümmert um alles Geschrei, in Ruhe den Weg, den er als den richtigen erkannt hatte. Bald genug zeigte sich, wie richtig er gerechnet hatte; dadurch daß er imstande war, die Schlacht abzulehnen, ist, wie Archidamos vorhergesagt hatte, das Unternehmen der Feinde vollkommen gescheitert. Als sie etwa einen Monat lang Attika verwüstet hatten37, ging ihr Proviant zu Ende; auf dem Rückzug (Ende Juni oder Anfang Juli) plünderten sie noch das Gebiet von Oropos, dann löste das gewaltige Heer sich auf. Weiteres vermochten sie nicht zu leisten, für den Rest des Jahres hatte Athen vollkommen freie Hand.

Schon als die Peloponnesier noch im Lande standen38, ging eine attische Flotte von 100 Trieren mit 1000 Hopliten und 400 Schützen in See, um den Feinden durch Verwüstung ihrer Küsten heimzuzahlen; ihnen schlossen sich die Korkyräer mit 50 Schiffen an. Sie haben mehrere Küstenorte von Lakonien und Elis heimgesucht; dann nahmen sie in Akarnanien das korinthische Kastell Sollion, das dem Nachbarort Palairon überlassen wurde, und verjagten den Tyrannen Euarchos von Astakos, schließlich gewannen sie die Städte von Kephallenia, darunter auch das bisher zu Korinth haltende Pale, für den Anschluß an Athen. Während des Winters hat Euarchos vergeblich versucht, mit korinthischer Hilfe diese Erfolge rückgängig zu machen. Für den Krieg mit Makedonien und Potidäa gewann man das Bündnis des mächtigen Thrakerkönigs Sitalkes (Bd. IV 1, 722)39. Das hatte zur Folge, daß Perdikkas gegen die Rückgabe Thermes (s.S. 12f.) nicht nur vom Kriege zurücktrat, sondern fortan Athen gegen Potidäa und die Chalkidier unterstützte. Auch an der [37] Küste von Lokris operierte Athen erfolgreich und besetzte zur Deckung Euböas das kleine in der Bucht von Opus gelegene Eiland Atalante. Aus Ägina, von dessen Beschwerden in Sparta man Kunde hatte, wurde die gesamte Bevölkerung verjagt – die Spartaner haben sie in Thyrea angesiedelt – und die Insel mit attischen Kolonisten besetzt40. So wurde zugleich der alte Rivale Athens aus der Zahl der griechischen Staaten gestrichen und der Piräus noch weiter gegen jeden Angriff von der Seeseite gesichert. Endlich beschloß man an den Megarern, die den offiziellen Kriegsgrund hergegeben hatten, gründlich Rache zu nehmen; auf Antrag des Charinos sollten die Strategen alljährlich zweimal mit dem Gesamtaufgebot der attischen Landmacht in ihr Gebiet einrücken und dasselbe von Grund aus verwüsten. Diesmal führte Perikles selbst den Heerbann – 10000 attische Hopliten, 3000 Metöken, dazu die Flotte und ein großer Troß von Theten. Diese Züge sind alljährlich wiederholt worden. Die Megarer konnten sich nicht wehren, die Peloponnesier aber mußten es geschehen lassen; zweimal im Jahre ihre Armee zusammenzubringen, war für sie schwer möglich, und ehe sie mobil gemacht hatten, waren die Athener längst wieder hinter die schützenden Mauern der Hauptstadt zurückgekehrt41.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 32-38.
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