Kriegsentschluß der Spartaner. Gylippos in Syrakus

[235] Diesmal hatten die Athener sich verrechnet: in Sparta war man bereits entschlossen, den Handschuh aufzunehmen. Als im Winter 415/4 die syrakusanische Gesandtschaft mit dem dringenden Hilfsgesuch eintraf (s.S. 228), als man erfuhr, daß Syrakus aus eigener Kraft den Athenern schwerlich gewachsen sein werde, da mußte den Peloponnesiern die Erkenntnis aufgehen, daß drüben auf der fernen Insel über das eigene Geschick der Entscheidungskampf geführt werde. In Korinth war man sofort entschlossen, die Tochterstadt nicht im Stiche zu lassen. In Sparta fiel der Entschluß schwerer; die Ephoren, noch immer von dem Wunsche beseelt, an der traditionellen Politik festzuhalten und größere Unternehmungen, deren Ende sich nicht absehen ließ, zu vermeiden, glaubten mit der Mahnung an Syrakus auskommen zu können, es solle Athen bis zum äußersten Widerstand leisten. Aber die Syrakusaner und Korinther fanden jetzt eine kräftige Unterstützung durch Alkibiades; er öffnete den Spartanern die Augen über die Pläne, die [235] Athen mit dem Unternehmen verband und über den, wenn es gelingen sollte, unvermeidlich bevorstehenden Angriffskrieg Athens, dem sie alsdann, wenn die Machtmittel der Feinde verdoppelt waren und man den Peloponnes von allen Seiten blockieren konnte, nicht mehr gewachsen sein würden. Diese Belehrung aus berufenstem Munde schlug durch: man beschloß, den Syrakusanern sofort Hilfe zu senden. Zugleich trat man dem Gedanken näher, den offenen Krieg gegen Athen wieder zu beginnen; alsdann wollte man ihn energischer führen als das vorige Mal und vor allem, Alkibiades' Rat folgend, sich dauernd in Attika festsetzen. Freilich standen dem noch immer starke Bedenken entgegen, nicht nur weil man nach den bisherigen Erfahrungen fürchtete, auch so nicht zum Ziel zu gelangen, sondern vor allem, weil man die Niederlagen im vorigen Kriege als göttliche Strafe dafür betrachtete, daß man damals den Vertrag gebrochen und das von Athen gebotene Schiedsgericht geweigert hatte. Indessen Athen selbst übernahm es, durch den Angriff auf Lakonien im Sommer 414 Sparta von diesen Bedenken zu befreien; seitdem stand auch hier der Kriegsbeschluß fest, und die Vorbereitungen für den Einfall im Frühjahr 413 wurden getroffen.

Eine starke Hilfsmacht konnte man Syrakus nicht senden. Indessen das war auch nicht erforderlich. Was es brauchte, war die Zuversicht, daß es von den Stammesbrüdern daheim in seiner Not nicht im Stiche gelassen werde, und vor allem ein Mann von erprobter militärischer Erfahrung, der mit der Autorität des Spartiaten die schwankenden Massen in Zaum halten und organisieren und womöglich zugleich die übrigen Sikelioten aus ihrer Passivität aufrütteln konnte. Der Mann, den Sparta mit dieser Aufgabe betraute, war Gylippos, der Sohn des Kleandridas, angeblich ein Mothax (Bd. IV 1, 436), der Sohn einer Helotin. Eine bessere Wahl hätte man nicht treffen können. Der Name des Vaters war im Westen durch seine Taten in Thurii (Bd. IV 1, 678) wohlbekannt; Gylippos selbst stand an Umsicht und Energie, an Befähigung zu militärischer und politischer Organisation dem Brasidas nicht nach. Bis zum Hochsommer 414 hatte er 19 Kriegschiffe aus Korinth, Sparta, Leukas und Ambrakia bei Leukas gesammelt und wollte [236] von hier, nachdem man noch weitere Mannschaften aufgenommen hatte, nach Syrakus hinüberfahren. Inzwischen kamen aber immer schlimmere Nachrichten; die Lage der Stadt schien verzweifelt und hoffnungslos. Gylippos hielt Sizilien verloren; so entschloß er sich, schleunigst mit 4 Schiffen nach Italien vorauszufahren, um zu versuchen, wenigstens hier einigen Widerstand zu organisieren. Seine geringe Macht erschien wenig verlockend; weder Tarent noch Thurii, wo die Parteien sich gerade damals aufs heftigste befehdeten, hatten Neigung, auf ein so aussichtsloses Unternehmen sich einzulassen. Indessen gerade dieser Umstand schlug ihm zum Vorteil aus; auch Nikias und die Athener unterschätzten die Bedeutung seines Unternehmens und hielten es nicht für der Mühe wert, ihm entgegenzutreten. Als Nikias dann doch noch 4 Schiffe nach Rhegion sandte, um ihm den Weg zu verlegen, war es zu spät; Gylippos, der inzwischen erfahren hatte, daß die Einschließung von Syrakus noch nicht vollendet sei, hatte bereits die Meerenge passiert und konnte ungehindert in Himera landen. Hier fand er gute Aufnahme; die Stadt bewaffnete seine Matrosen und stellte ihm 1000 Mann und 100 Reiter. Auch Selinus und Gela sandten einige Unterstützung, vor allem aber schlossen sich zahlreiche Sikeler an, so daß er mit etwa 3000 Mann den Marsch nach Syrakus antreten konnte. Inzwischen war hier, gerade als man über Verhandlungen mit Athen beriet, eine korinthische Triere eingetroffen und hatte die frohe Kunde des bevorstehenden Entsatzes gebracht. So schöpfte man wieder Mut; die gesamte Heeresmacht rückte auf der Nordseite von Epipolä, wo die athenische Einschließungsmauer noch nicht ausgeführt war, Gylippos entgegen, während dieser den Eryelos, die westliche Höhe des Plateaus, erstieg. Zwischen beiden Heeren konnte Nikias einen Angriff um so weniger wagen, da er jetzt ausgedehnte Festungswerke zu verteidigen hatte; aber er stellte sein Heer in Schlachtordnung auf. Gylippos vereinigte sich mit den Syrakusanern; indessen eine Schlacht mit den noch undisziplinierten Heerhaufen zu liefern, hielt auch er für bedenklich. Da die Athener nicht angriffen, führte er die gesamte Armee in die Stadtmauer zurück.

Mit Gylippos kam ein neuer Geist über Syrakus; man wagte jetzt mit Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Gleich beim Anmarsch [237] nach der Stadt hatte er durch einen Herold den Athenern entbieten lassen, wenn sie binnen fünf Tagen Sizilien räumen wollten, wolle er ihnen freien Abzug gewähren. Die Athener gaben keine Antwort; aber alsbald beschlich sie die Empfindung, wie sehr sich die Situation geändert habe. Am nächsten Tage nahm Gylippos, während er die Athener durch einen Angriff auf die Einschließungsmauer festhielt, das Kastell Labdalon am Nordrand von Epipolä, wo die Athener sich zuerst festgesetzt hatten (s.S. 230); dann begann er hier im Norden den Bau einer dritten Quermauer. Zugleich stellte er im syrakusanischen Heer die gänzlich verfallene Disziplin wieder her und übte es in kleinen Gefechten. Die Athener konnten wenig mehr ausrichten; die Offensive, die sich durch neue Kräfte zur Zeit nicht verstärken konnte, hatte bereits den Kulminationspunkt überschritten, und mit dem Stillstand trat notwendig der Umschwung ein. Seitdem die Athener ausgedehnte Festungswerke aufgeführt hatten, wurde die Kraft ihres Landheeres durch den Schutz derselben und den ununterbrochenen Wachtdienst brachgelegt. Die Schiffe waren jetzt anderthalb Jahre in See und hatten dadurch schwer gelitten; eine Möglichkeit, sie trockenzulegen und zu reparieren, war nicht vorhanden, während die Syrakusaner begannen, ihre Flotte instand zu setzen. Die Flottenmannschaft war durch den langen Krieg verwildert; nicht wenige Ruderer hatten Sklaven aus Hykkara als Ersatzmänner gestellt und waren statt dessen Marketender geworden oder auch auf und davon gegangen. Jetzt, wo die Hoffnung auf raschen Gewinn dahinschwand und dafür die Gefahren des Krieges stärker hervortraten, begannen die Desertionen, namentlich unter den geworbenen Matrosen und den Sklaven auf den Schiffen und im Troß, und Ersatz war nicht zu finden. Nikias war kein genialer Feldherr und siechte überdies an einem Steinleiden; aber der oft erhobene Vorwurf, er habe es an Umsicht und Energie fehlen lassen, trifft ihn nicht. Auch hier ist das Laienurteil, das lediglich den Erfolg zum Maßstab nimmt, militärisch verkehrt; daß das Unternehmen scheiterte, war nicht seine Schuld, sondern die der Umstände, die er mit seinen Mitteln nicht mehr beherrschen konnte. Er hat getan, was er nur tun konnte. In dem Lager vor Syrakus waren die Athener ausschließlich auf fremde [238] Zufuhr, namentlich aus Italien, angewiesen. Um diese gegen einen Angriff bei der Einfahrt in die Bucht zu sichern und dem Schiffslager größeren Schutz zu gewähren, besetzte er die Höhe Plemmyrion am südlichen Eingang des Golfes, Syrakus gegenüber, und verlegte die Flotte hierher, in den Schutz von drei auf den Höhen angelegten Kastellen. Damit schien die Beherrschung der See gesichert, wenn auch die Flottenmannschaft durch den Mangel an gutem Trinkwasser schwer zu leiden hatte und beim Fouragieren unaufhörlich von den syrakusanischen Reitern belästigt wurde, die unweit des Plemmyrion in einem Kastell beim Tempel des olympischen Zeus lagen. Die Landarmee in den Befestigungen konnte ihnen nicht helfen; sie war jetzt von der Flotte durch das Sumpfland am Anapos getrennt. Als die Quermauer der Syrakusaner vorschritt und die Höhe der attischen Befestigungen nahezu erreicht hatte, ließ sich der Kampf nicht länger vermeiden. Bei einem ersten Gefecht in dem engen Terrain zwischen beiden Mauern siegten die Athener. Aber Gylippos hielt den Mut der Syrakusaner aufrecht, indem er alle Schuld auf sich nahm: es wäre doch eine undenkbare Schmach, wenn bei richtiger Führung die Dorier nicht mit den zusammengelaufenen Ionierhaufen sollten fertig werden können. In der nächsten Schlacht ging er weiter ins Freie hinaus, wo die Reiterei zu voller Verwendung gelangen konnte; und diesmal wurden die Athener in ihre Befestigungen zurückgeworfen. Jetzt konnte die Quermauer sofort über die Linie der athenischen Umwallung hinausgeführt werden: eine Einschließung von Syrakus war fortan unmöglich geworden.

Über diesen Kämpfen war der Winter herangekommen. Für das nächste Jahr konnten Gylippos und die Syrakusaner die Vorbereitungen zu einer umfassenden Offensive treffen, welche die Athener aus der Insel verjagen oder womöglich sie vollständig vernichten sollte. Die athenischen Befestigungen anzugreifen war bedenklich und hätte viel Blut gekostet; die Entscheidung mußte jetzt, wo der freie Zugang zu Lande gesichert war, zur See gesucht werden. Noch im Herbst waren die zwölf Schiffe des Geschwaders, das Gylippos in Leukas zurückgelassen hatte, den ihnen auflauernden Athenern glücklich entkommen und in den Hafen von Syrakus [239] (derselbe lag nördlich von der Insel der Altstadt, gegen jeden athenischen Angriff geschützt) eingelaufen. Syrakus hatte jetzt 80 Schiffe zur Verfügung, die es während des Winters instand setzte und bemannte. Von Sparta und Korinth erbat man weitere Verstärkungen, namentlich an Mannschaften; Gylippos selbst begab sich in die sizilischen Städte, um auf der Insel eine große Allianz zusammenzubringen und überall Truppen und Schiffe zu werben. Nikias erkannte, daß er aus eigener Kraft nicht mehr imstande sein werde, sich zu behaupten. Er schickte ein dringendes Gesuch nach Athen, entweder die Expedition abzuberufen oder aber ein zweites Heer und sehr viel Geld nach Sizilien zu senden. Dringend warnte er, sich vor allen Illusionen zu hüten: mit Nachschüben und geringen Verstärkungen sei, wie die Dinge sich gestaltet hatten, nichts mehr zu erreichen; wolle man an dem Unternehmen festhalten, so müsse die neue Armee zu Lande und zur See der vorigen an Stärke gleich und mit allen materiellen Mitteln wohl ausgerüstet sein. Außerdem bat er für sich selbst um einen Nachfolger, da er infolge seiner Krankheit den Strapazen des Krieges nicht mehr gewachsen sei.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 235-240.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon