Freier Stand

[228] Freier Stand. Zu Tacitus Zeit teilt sich das Volk der Deutschen in drei Stände: Adlige, Freie und Hörige. Der Hauptteil und die Kraft des Volkes, die wahren Volksgenossen, sind die Freien; der Name frei geht durch alle deutschen Zungen, daneben frîman, frîhals und bei den Sachsen frîling. Die Geburt von freien Eltern gab die Freiheit; doch mochte der Herr seine mit einer Sklavin erzeugten Kinder wie seine echten Kinder halten. Der umgekehrte Fall dagegen kam in germanischer Zeit nicht vor; eine freie Mutter, die von einem Knechte Kinder[228] gewann, verfiel der schmählichsten Todesstrafe oder Knechtschaft. Zur Freiheit gehört notwendig eigener Grundbesitz. Der Freigelassene blieb ein Höriger. Äusseres Kennzeichen des Freien ist das lange, lockige Haar, Knechte und Unmündige hatten ihr Haar zu scheren. Jeder Freie hat das Recht, unbehindert zu gehen, wohin er will, es folgt ihm kein Herr nach, der ihn zurückverlangen darf, er ist [229] nicht an die Scholle gebunden. Das Wergeld wird nach demjenigen des Freien gemessen: der Lite oder Freigelassene hatte das halbe, der Adlige das doppelte Wergeld des Freien. Zum Rechte der Freien gehört das Waffenrecht; seine Waffen legt der Freie von der Wehrhaftmachung an bis zum Tode nicht wieder ab, sie folgen ihm sogar ins Grab. Schwert und Lanze gelten als Zeichen der Freiheit. Die Waffen strecken heisst sich der Freiheit begeben. Ein weiteres Recht und zugleich Pflicht des Freien ist Teilnahme an Volksversammlung und Gericht. Der Freie kann seine Freiheit preisgeben, z.B. durchs Spiel.

Infolge der Völkerwanderung und namentlich infolge der staatlichen Neubildungen durch die Gründung des Frankenreiches verwischte sich die frühere strenge Scheidung zwischen Freien und Unfreien und es bildeten sich eigentümliche Übergänge und Zwischenstufen. Knechte wurden waffenfähig und stiegen dadurch bei dem Könige oder vornehmen Herrn zu Ansehen und Einfluss, die Zahl der Freigelassenen vermehrte sich, römische Stände mittlerer Freiheit fanden bei den Deutschen Eingang und Verbreitung; Freigeborene traten in Abhängigkeit und Dienst zu anderen, lebten in ihrem Haus und empfingen von ihnen Land zu Lehen. Aus der Zahl der Freien steigt eine Anzahl durch Macht und Reichtum über die früheren Standesgenossen empor. Hauptsache für den Freien bleibt aber immer der freie Grundbesitz. An letzteren knüpft sich auch jetzt noch die Teilnahme an den gerichtlichen Geschäften, nur dass jetzt das alte Recht in einen Zwang verwandelt ist. So war auch der freie Grundbesitzer allein zur Heeresfolge verpflichtet.

In der Karolinger-Zeit geht der Umwandlungsprozess der Stände noch rascher von statten; Freiheit mit freiem Grundbesitz verbunden, ist so selten geworden, dass man einen Besitzer desselben nobilis nennt; der gewöhnliche Name für diesen Stand ist aber boni homines; sie allein konnten zu Schöffen herangezogen werden; aber auch die Gau- und Schöffengerichte wurden von den zahlreichen anderen Gerichten mehr und mehr verdrängt. Ebenso ist unter den Karolingern der Heerdienst zwar noch eine allgemeine Pflicht des grundbesitzenden Freien, aber schon jetzt waren zahlreiche Männer vorhanden, die ohne Freiheit und Grundbesitz ihrer persönlichen Stellung zufolge zum Waffendienst verpflichtet waren, und die Reiterei machte schon unter Karl dem Grossen einen ansehnlichen Teil des Heeres aus; diese aber bestand nicht aus den gewöhnlichen Freien, die den Heerbann zu leisten hatten.

Immer mehr traten an Stelle der durch Geburt und Grundbesitz bedingten Freiheit andere Verhältnisse, welche die Bedeutung und den Wert eines Mannes bedingen: die Stellung im Reich und zu den verschiedenen Gewalten desselben, der Besitz von Ämtern, Rechten und Gütern, der Dienst, den man leistet, der Beruf, den der einzelne betreibt, das Leben in einer Stadt oder auf dem Lande. Zwar wird der Unterschied von Freien und Knechten noch immer gemacht, besonders in Rechtsgeschäften; aber andere Unterschiede, wie der zwischen Adligen und Unadligen, Bürgern und Bauern, Rittern und Kaufleuten, sind gebräuchlicher und dem Geist der Zeit angemessener. Doch war die Zahl der Freien noch im 11. Jahrhundert sowohl in den Städten als auf dem Lande keine geringe; es überwog aber die Zahl der Halbfreien und der Unfreien dergestalt, dass vielfach altbewahrte Freiheit den Inhaber in den Stand des Adels erhob; dieses ist der Ursprung desjenigen Adels,[230] der sich mhd. vrî nannte, später Freiherr. Die nicht adlig gewordenen echten Freien heissen im Sachsenspiegel die Schöffenbarfreien, scepenbûre vrîe, im Schwabenspiegel die Mittelfreien, mittelvrîe, doch ist diese Klasse in beiden Spiegeln schon im engen Zusammenhang mit dem Lehnswesen gedacht. Nur in einzelnen Gegenden, wie in Westfalen, bei den Ditmarschen, in der Schweiz, erhielten sich echte freie Bauern bis über die Lehnsverfassung hinaus und vermochten ihren althergebrachten Stand bis in die staatlichen Neubildungen des ausgehenden Mittelalters zu retten. Die Litteratur des höfischen Mittelalters braucht das Wort vrî fast bloss mit abstrakten Objekten: alles übels, der sünden, armüete, der êren, vreuden, guoter sinne, des lebens, vor missewende, vor valsche vrî u. dgl. So ist auch das Wort Freiheit, vrîheit im Mhd. selten; wo es vorkommt, wird es meist nicht in gesellschaftlicher oder rechtlicher Beziehung gebraucht, sondern entweder als Stand des Freien, häufiger aber als Privilegium oder Immunität, als gefreiter, aus einer grösseren Herrschaft abgetrennter Herrschaftsbezirk oder als Asyl. Freiheit im Gegensatz zu Knechtschaft und Unterwürfigkeit scheint als Übersetzung von libertas erst durch Luthers Bibelübersetzung aufgekommen zu sein; daher die Bauern eine so grosse Freude an dem neuen Worte bezeugten.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 228-231.
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