Priester Johannes

[812] Priester Johannes galt dem europäischen Abendlande als ein geheimnisvoller grosser König, der im Morgenlande über ein christliches Volk herrschen sollte, und von dem man ausgiebige Hilfe zur Eroberung und Erhaltung des gelobten Landes erhoffte. Die erste Nachricht über den Priesterkönig oder Presbyter Johannes bringt der Geschichtsschreiber Otto von Freising, der Stiefbruder Kaiser Konrad III. Otto berichtet, dass er 1145 aus dem Munde eines syrischen Bischofes folgendes habe erzählen hören: Vor wenigen Jahren sei im fernen Osten jenseits Armenien und Persien ein gewisser Johannes, Priester und König zugleich über ein nestorianisches Volk, aufgetreten, habe erst die medische Hauptstadt Egbatana erobert und dann die samiardischen Bruderkönige, die in Persien und Medien herrschten, in dreitägiger Schlacht besiegt und sei weiter nach Westen gerückt, um der bedrängten Kirche in Jerusalem beizustehen. Aber der Tigris habe seinem Zuge Halt geboten und ihn zur Umkehr genötigt. – Das hier genannte Ereignis wird auf die im Jahr 1141 geschehene Schlacht bei Samarkand gedeutet, in welcher der tungusischmandschurische Volksstamm der Chitanen unter ihren, Korchan oder Gurchan (woraus allmählich der Name Johannes entstanden sein soll) genannten Fürsten den persischen Sultan Sandschar mit seinen Neffen besiegten. Andere denken an den siegreichen Kampf des Johann Orbelian, des Grosswürdenträgers und siegreichen Feldherrn des georgischen Königs David, mit den Türken, um 1123. Jedenfalls suchten später die abendländischen Reisenden den Priesterkönig im Osten des kaspischen Meeres und, als sie ihn dort nicht fanden, denn das Reich der Chitanen war 1215 zerstört worden, immer weiter im Osten bis nach China. Die Verwechslungen und Verschiebungen des Priesters Johannes dauerten bis ins 14. und 15. Jahrhundert, wo man ihn schliesslich im christlichen König von Habesch entdeckt zu haben glaubte, an welchen noch im 16. Jahrhundert portugiesische Gesandte abgingen. Ruge, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen. Berlin 1881. S. 37–40.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 812.
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