Antinomismus

[208] Antinomismus, eine Irrlehre, welche das Sittengesetz verwirft und diese Verwerfung durch Berufung auf die heil. Schrift zu rechtfertigen versucht. Sie beginnt schon in der Zeit der Apostel und geht in verschiedener Gestalt durch die Häresien aller Jahrhunderte hindurch; sie behauptet entweder, das Handeln nach dem Sittengesetze sei geradezu etwas Schädliches für die höhere Natur der Begnadigten; oder das Handeln gegen dasselbe sei etwas zur Entwicklung der höhern Natur Nothwendiges, oder endlich, es sei für das höhere Leben gleichgiltig. Zur Zeit der Reformation veranlaßte J. Agricola den antinomistischen Streit; gegen Melanchthons Belehrung, daß das Gesetz zwar für den Gerechtfertigten keine verbindende und keine schreckende Kraft mehr habe, weil die guten Werke von selbst aus der Liebe folgen, und allein der Glaube an Christus die Gewissen beruhige, daß aber das Gesetz dazu diene, den Geist der Buße, der dem Glauben vorangehe, zu wecken und denselben auch bei den schon Gerechtfertigten zu erneuern, und darum ernstlich zu predigen sei, behauptete Agricola, das sei dem Evangelium zu wider, und die Buße dürfe blos aus dem Leiden des Sohnes durch das Evangelium gelehrt werden und das Gesetz habe nicht den mindesten Antheil an der Rechtfertigung des Menschen. Melanchthon vertheidigte seine Lehre gegen Agricola und Luther setzte diesem hart zu und zwang ihn zum Widerrufe. Später regte er sich jedoch wieder und seine Meinung hat immer wieder unter den Protestanten verschiedener Länder Anhänger und eigene Ausdrucksweise gefunden.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 1, S. 208.
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