Andacht-Lied

Um Weißheit und Verstand, das Gute zu erwählen

[70] Nach der Singweise: Auf, auf! mein Hertz, und du mein ganzer Sinn, usw.


1.

Auf Erden hier wohnt lauter Unverstand,

Der Himmel ist der Weißheit Vatterland:

Dahin will ich mich jetzt im Geiste schwingen,

Witz und Verstand mit mir zurücke bringen.


2.

Zum Sionsberg heb ich die Augen auf

Und mit Gebet mir Raht und Hülfe kauff:

Dort quellen auf die rechten Musenbrunnen,

Aus welchen kommt Witz und Verstand gerunnen.


3.

Laß deinen Geist, O Gott, mich feuren an,

Der nur allein mich geistig machen kan:

Ohn dich ist nichts mein Dichten und mein Wachen,

Es kan ohn dich mein Machen wenig machen.

4.

Gib ihn mir zu als einen treuen Raht,

Wann meine Wahl wankt zwischen Nutz und Schad,

Daß mein Verstand nit mög deß Guten fehlen,

Und daß der Will das Bäste mög erwählen.


5.

Sag meinem Sinn, wann er sich selbst vergißt,

Was mir zu tuhn und was zu lassen ist,

Daß ich nit blind und unvorsichtig lauffe

Und volles Sprungs in mein Verderben schnauffe.


6.

Oft will ich nicht, was ich doch heisse gut,

Und tuhe das, warvor mich warnen thut

Dein Geist in mir. Laß mich nur ihm zuhören

Und der Begierd ihr Drachen-Nest zerstören.


7.

Du legest mir oft Tod und Leben für:

Diß schlag ich aus und jens erwähl ich mir.

Vergib die Schuld und laß mich Sünde meiden:

Vor Gottesfurcht ist mir viel Lohns bescheiden.


8.

Gott, laß mich Gold nit suchen mehr als dich,

Die Tugend, nicht das Gold bereichre mich;

Mein' Ehre sey nur dieses, dich zu ehren,

Laß keine Lust mich ausser dir begehren.
[71]

9.

Ob mich auf Erd plagt Schmach und Noht und Leid:

Auf kurze Zeit folgt lange Ewigkeit.

Zwo freuden sich und auch zwey Leiden zählen:

Man muß diß / jens Leid vor jene / diese Freud erwählen.


10.

Hier Wohl, dort Weh; hier Freud und dorten Leid;

Hier Seeligkeit, dort lange bange Zeit;

Hier reich, dort arm; hier Himmelreich, dort Hölle;

Hier Ehr, dort Schmach: die Welt diß Urteihl fälle!


11.

Hier Weh, dort Wohl; hier Leid und dorten Freud;

Hier Eitelkeit und dorten Ewigkeit;

Hier arm, dort reich; dort Himmelreich, hier Hölle;

Hier Schmach, dort Ehr: hierauf mein Ziel ich stelle.


12.

Das bäste Teihl, O Gott, erwähl ich mir,

Das mein soll seyn und bleiben für und für:

Die Welt – sie mag ihr Teihl auf Erd verwalten –

Das böse Teihl dort ewig muß behalten.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 5, Hildesheim 1964, S. 70-72.
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