Am Allerheiligentage

[684] »Selig sind die Armen im Geiste, denn ihnen ist das Himmelreich. – Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. – Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. – Selig sind die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden ersättigt werden. – Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. – Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott anschauen.–Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. – Selig sind die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen ist das Himmelreich.«


Selig sind im Geist die Armen,

Die zu ihres Nächsten Füßen

Gern an seinem Licht erwarmen

Und mit Dienerwort ihn grüßen,

Fremden Fehles sich erbarmen,

Fremden Glückes überfließen:

Ja, zu ihres Nächsten Füßen

Selig, selig sind die Armen.
[684]

Selig sind der Sanftmut Kinder,

Denen Zürnen wird zum Lächeln

Und der Milde Saat nicht minder

Sprießt aus Dorn und scharfen Hecheln,

Deren letztes Wort ein linder

Liebeshauch in Todesröcheln,

Wenn das Zucken wird zum Lächeln:

Selig sind der Sanftmut Kinder!


Selig sind die Trauer tragen

Und ihr Brod mit Tränen tränken,

Nur die eigne Sünde klagen

Und der fremden nicht gedenken,

An den eignen Busen schlagen,

Fremder Schuld die Blicke senken:

Die ihr Brod mit Tränen tränken,

Selig sind die Trauer tragen!


Selig wen der Durst ergriffen

Nach dem Rechten, nach dem Guten,

Mutig, ob auf morschen Schiffen,

Mutig steuernd nach den Fluten,

Sollte unter Strand und Riffen

Auch das Leben sich verbluten:

Nach dem Rechten, nach dem Guten,

Selig, wen der Durst ergriffen!


Die Barmherzigen sind selig,

So nur nach der Wunde sehen,

Nicht erpressend kalt und wählig,

Wie der Schaden mocht' entstehen,

Leise, schonend und allmählich

Lassen drin den Balsam gehen:

So nur nach der Wunde sehen,

Die Barmherzigen sind selig.
[685]

Überselig reine Herzen,

Unbefleckter Jungfraun Sinnen!

Denen Kindeslust das Scherzen,

Denen Himmelshauch das Minnen,

Die wie an Altares Kerzen

Zündeten ihr klar Beginnen:

Unbefleckter Jungfraun Sinnen,

Überselig reine Herzen!


Und des Friedens fromme Wächter

Selig, an den Schranken waltend,

Und der Einigkeit Verfechter

Hoch die weiße Fahne haltend,

Mild und fest gen den Verächter

Wie der Daun die Klinge spaltend:

Selig an den Schranken waltend,

Selig sind des Friedens Wächter!


Die um dich Verfolgung leiden,

Höchster Feldherr, deine Scharen

Selig, wenn sie alles meiden,

Um dein Banner sich zu wahren!

Mag es nie von ihnen scheiden

Nicht in Lust noch in Gefahren:

Selig, selig deine Scharen!

Selig, die Verfolgung leiden!


Und so muß ich selig nennen

Alle, denen fremd mein Treiben,

Muß indes die Wunden brennen,

Fremden Glückes Herold bleiben.

Wird denn nichts von dir mich trennen,

Wildes, saftlos morsches Treiben?

Muß ich selber mich zerreiben?

Wird mich keiner selig nennen?
[686]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 684-687.
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