Das VI Hauptstück.
Von den Zeitwörtern, (Verbis) ihren Gattungen, Arten und Abwandelungen.

[343] 1 §.


Was ein Zeitwort sey, ist oben schon gemeldet worden; nämlich ein Wort, welches das Thun oder Leiden, aber zugleich die Zeit, darinn es geschieht, andeutet. Nun ist aber die Zeit dreyerley, nämlich die gegenwärtige, vergangene und zukünftige: z.E. ich schreibe, ich habe geschrieben, und ich werde schreiben. Bey der ersten ist weiter nichts anzumerken: die vergangene aber und die letzte lassen sich in dreyerley Stuffen der Vergangenheit und Zukunft abtheilen. Denn manche Dinge sind nur kaum itzo, oder unlängst vergangen; als: ich schrieb: andere sind völlig vergangen; als: ich habe geschrieben; noch andere aber sind vorlängst vergangen, als ich hatte geschrieben. Das Künftige ist bisweilen ungewiß, als: ich will schreiben; bisweilen gewiß, ich werde schreiben; bisweilen bedingt, als: ich würde schreiben. Daher bekommen wir eigentlich sieben Zeiten zu merken.


1. Die gegenwärtige Zeit, (TEMPUS PRÆESENS.)

2. Die kaum vergangene, (PRÆTERITUM IMPERFECTUM.)

3. Die völlig vergangene, (PRÆTERITUM PERFECTUM.)

4. Die längst vergangene, (PRÆTERITUM PLUSQUAMPERFECTUM.)

5. Die ungewiß zukünftige, (TEMPUS FUTURUM INCERTUM.)

6. Die gewiß zukünftige, (FUTURUM CERTUM.)

7. Die bedingt zukunftige, (FUTURUM CONDITIONATUM.)[343]


2 §. Da die Zeitwörter entweder ein Thun, oder ein Leiden bedeuten, so theilen sie sich gleichsam selbst in zwo Gattungen (GENERA). Man nennet die erste davon, die thätige Gattung (ACTIVUM); z.E. ich liebe, ich hasse, ich trage, etc. die andere aber die leidende (PASSIVUM); als: ich werde geliebet, gehasset, getragen. Es giebt aber noch eine mittlere Gattung (NEUTRUM), die weder ein Thun, noch ein Lassen, sondern einen gewissen Zustand der Sache andeutet: als z.E. ich sitze, ich stehe, ich liege, ich reise, ich schlafe, ich lebe, ich sterbe; und das Merkmaal von dieser ist, daß man nicht sagen kann: ich werde gesessen, gestanden, gelegen, gereiset, geschlafen, gelebet, oder gestorben; sondern ich bin, oder habe. Mehrere Gattungen der Zeitwörter giebt es im Deutschen nicht: man müßte denn die wenigen, in Ansehung der Bedeutung, davon unterscheiden wollen, die unter einer thätigen Gestalt, eine leidende Bedeutung haben; als: ich höre, ich fühle, ich leide, u.d.gl. Doch diese können ebenfalls zu der mittlern Gattung gezählet werden. Wir haben also nunmehro Zeitwörter dreyer Gattungen (TRIUM GENERUM); erstlich thätige, (ACTIVA); 2) leidende, (PASSIVA), und 3) mittlere, (NEUTRA).

3 §. Was gethan oder gelitten wird, das wird von diesem oder dem, von einem, oder von mehrern gethan, oder gelitten. Eine jede Zeit der Zeitwörter hat also wiederum ihre Personen und Zahlendungen; nachdem das Thun und Leiden von einem, oder mehrern geschieht. Doch wir Deutschen können diese Abwandelung der Zeitwörter nicht ohne Vorsetzung der Fürwörter, ich, du, er, wir, ihr, sie, verrichten; und von unsern siegenden Vorfahren haben solches die heutigen südlichen und westlichen Sprachen gelernet; ob sie gleich Töchter der alten lateinischen sind, die solches nicht nöthig hatte. Alle Zeitwörter nun, die solche persönliche Fürwörter annehmen, nennet man daher persönliche Zeitwörter ( VERBA PERSONALIA): und ihrer ist unstreitig die[344] größte Menge in allen Sprachen. Allein, da es auch Veränderungen, Wirkungen und Leiden in der Welt giebt, die von keiner gewissen Person, sondern von andern natürlichen Ursachen herrühren: so hat man sich dabey der unbestimmten Fürwörter man und es bedienen müssen. In Ansehung dessen nun, werden diese Zeitwörter unpersönliche, (IMPERSONALIA) genennet, Z.E. es regnet, es schneyet, es friert, es brennet; oder, man saget, man glaubet, man höret, u.d.gl.

4 §. Es war aber nicht genug, dergestalt in den Zeitwörtern die Gattungen, Zeiten, Zahlen und Personen unterschieden zu haben; man mußte auch noch die verschiedenen Arten, (MODOS) ihrer Bedeutung anzeigen. Man zählet derselben vier, und zwar folgender Weise: Die erste bedeutet schlechthin und gerade zu das Thun und Leiden; als: ich lese, ich leide, ich werde geliebet: und diese nennet man die anzeigende Art (MODUM INDICATIVUM). Die zweyte bedeutet einen Befehl, oder ein Geboth, zu thun oder zu lassen; als: gib, sprich, frage, schone: und diese heißt die gebiethende Art (MODUS IMPERATIVUS). Die dritte zeiget die Verbindung mit dem vorhergehenden an; als, es schien, daß er käme, gienge, oder sterben würde: und das ist die verbindende Art, (MODUS CONJUNCTIVUS). Endlich ist die eine Bedeutung der Zeitwörter, in Ansehung aller dieser Stücke unbestimmt; als: gehen, stehen, zäh len, bitten, u.d.gl. Diese nennet man die unbestimmte Art, (MODUM INFINITIVUM)1.[345]

5 §. Hier ist es für einen Sprachenkenner keine überflüßige Frage: wie die deutschen Zeitwörter gebildet werden, oder wo ihr Ursprung herzuleiten sey? Einige davon sind wohl ursprüngliche Töne der Natur, dadurch die uralten Menschen ihre Gedanken vom Thun, oder Lassen, auszudrücken gesuchet. Und da ist nichts wahrscheinlicher, als daß die Bedürfniß fremder Hülfe, und die Begierde, sie von andern zu erlangen, ihren Mund zuerst mit der gebiethenden Art der Wörter aufgethan habe: brich, gib, hau, komm, nimm, schlag, steh, thu, trag, wart, weich, zeuch, u.d.gl. Daß dieses der Natur sehr gemäß sey, zeiget auch die Einfalt dieser Wörter, die sämmtlich einsyllbig, das ist, so kurz als möglich sind: von welchen hernach die längern Abwandelungen, durch allerhand vor- und zugesetzte Buchstaben und Syllben entstanden sind.

6 §. Nun kann man leicht denken, daß nach dieser ersten Grundlegung, auch durch die Zusammensetzung mit allerley andern Redetheilchen, mehrere Zeitwörter entstanden seyn werden. So ist z.E. aus kommen, das abkommen, ankommen, aufkommen, auskommen, beykommen, durchkommen, einkommen, gleichkommen, herkommen, hinkommen, loskommen, mitkommen, nachkommen, vorkommen, überkommen, unterkommen, wiederkommen, zurückkommen; so ist auch von geben, das angeben, angeben, begeben, beygeben, dargeben, eingeben, ergeben, hergeben, hingeben, losgeben, mitgeben, nachgeben, übergeben, untergeben, vergeben, vorausgeben, wiedergeben, zugeben, zurückgeben, u.d.m. entstanden. Was das nun für einen Reichthum in Zeitwörtern verschaffe, und wie unzählig viele verschiedene Begriffe sich dadurch ausdrücken lassen, kann man sich unschwer einbilden. Und man kann ohne Pralerey sagen:[346] daß, vermöge dieses einzigen Mittels, unsere Sprache allen heutigen Sprachen, ja selbst der lateinischen, an Menge der Wörter überlegen sey; der griechischen aber gleichfalls den Vorzug streitig mache.

7 §. Indessen will ich es nicht läugnen, daß nicht die deutsche Sprache auch aus einer ältern Mundart, die ihre Mutter gewesen, als z.E. aus der celtischen, gothischen, oder scythischen, viele Zeitwörter herhabe. Allein, weitgefehlet, daß dieses ihr fremde Wörter seyn sollten; so sind es vielmehr die einheimischen Wurzeln und Stämme, welche sich in soviel schöne Zweige, Reiser und Blätter ausgebreitet haben. Ja, gesetzt, daß diejenigen Gelehrten recht hätten, die auch so gar in hebräischen Wörtern die Ähnlichkeiten mit vielen deutschen finden; und daher dieselben für die Samkörner der deutschen ansehen wollten: so würde ich nicht entgegen seyn2. Denn da alle europäische Völker aus Asien gekommen; die hebräische Sprache aber theils an sich eine uralte Sprache, oder doch eine der besten Mundarten der uralten asiatischen Sprache ist: so kann es unserer Sprache zu keinem Vorwurfe gereichen, daß sie auch von ihrer Groß- und Ältermutter einige Züge an sich behalten hat.[347]

8 §. Nun bleiben noch die Zeitwörter übrig, die das Deutsche aus neuern benachbarten Sprachen irgend entlehnet haben könnte. Allein, dieselben sind gewiß, in Ansehung des Pohlnischen ganz unsichtbar bey uns; so tief auch die alten wendischen Völker vormals in Deutschland gedrungen gewesen. Die Tapferkeit der Unsern hat sie und ihre Sprache so glücklich zurückgeschlagen, daß das Deutsche fast bis an den Weichselstrom die Oberhand behalten hat. Im Deutschen sind nämlich fast gar keine Spuren vom Pohlnischen vorhanden, sie müßten denn von einer ältern allgemeinen Mutter noch herrühren. Die wälschen und französischen Zeitwörter würden uns eben so fremd seyn, als die griechischen und lateinischen: wenn nicht die Mengesucht neuerer Zeiten dieselben ohne Noth gemein gemacht hätte. Doch da dieser Misbrauch seit einiger Zeit fast unehrlich gemachet worden: so verlieren sie sich allmählich aus den guten[348] Schriften der Neuern; und werden künftig in den Schriften des vorigen und itzigen Jahrhunderts nur zum Zeugnisse von einer überstandenen ausländischen Krankheit, übrig bleiben. Was einige Neulinge uns wieder hinein zu sudeln suchen, machet ihre Schriften nur desto lächerlicher.

9 §. Ehe wir aber die völlige Abwandelung aller dieser Gattungen und Arten von Zeitwörtern nach der Reihe durchgehen können: so müssen wir erst die sogenannten Hülfswörter (VERBA AUXILIARIA) näher kennen lernen. Denn da wir nur zwo Zeiten mit einzelnen deutschen Wörtern ausdrücken können, nämlich die gegenwärtige und die jüngst vergangene Zeit: z.E. ich liebe, ich liebete; ich gebe, ich gab; so müssen wir alle übrige mit Beyhülfe der Hülfswörter, ich bin, ich habe, will, werde, würde, zusammen setzen; als ich bin beschenket worden, ich habe geliebet, ich werde geben, u.s.w.3. Und auch dieses haben die wälsche, französische und spanische Sprache von der deutschen gelernet; da hingegen ihre Mutter, die lateinische, solches nicht gethan hatte. Darum ist es nöthig, daß wir zuvor diese Hülfswörter ordentlich, nach ihren Arten, Zeiten und Personen abwandeln lernen, ehe wir die übrigen Zeitwörter vornehmen können.

Quelle:
Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 8, Berlin und New York 1968–1987, S. 343-349.
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