Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben

[32] In den grünlich falben Matten,

Unter einer Linde Schatten,

Hat ein müder Wandersmann

Seine Laute hingeleget,

Weil er, von dem Schlaf erreget,

Mund und Augen zugethan.


Auf den nah geleg'nen Auen

Weidet in dem kühlen Thauen

Ein darob erstaunter Knab'.

Als er nun nichts mehr vernommen,

Ist er näher beigekommen,

Hinterlassend seinen Stab.[33]


Er kniet bei der Laute nieder,

Die zuvor so holde Lieder

Und den wunderreinen Klang,

Diesen Knaben zu bethören,

In den Lüften lassen hören

Durch den strengen1 Saitenstrang.


Er wollt' dem Gehör nicht trauen,

Und mit seinen Augen schauen,

Wie des stummen Holzes Stern

Könnte sonder Sinn und Leben

So beliebte Stimme geben,

Wollt' er selber schauen gern.


Als er nun nicht mögen sehen,

Wie der Klang pflegt zu geschehen,

Rühret er die Saiten an.

Bald die Laute murmelnd klagte,

Und dem Wandersmann ansagte,

Was der Hirtenknab' gethan.[34]


Sind nicht in des Holzes Krümmen

Aller Vögel zarte Stimmen,

Die doch niemand hier beschaut?

Ich hab' mit dem Ohr vernommen,

Daß aus diesem Holze kommen

Ein gar wundersüßer Laut.


Wie kann aus des Bauches Klüften

Etwas tönen in den Lüften,

Sag' mir, lieber Wandersmann.

Sag' mir, wie kann doch geschehen,

Daß ich hier nicht kann ersehen,

Was ich hab' gehöret an?


Knab', du mußt den Ohren trauen;

Was du hörst, ist nicht zu schauen,

Dich vergnüge das Gehör.

Man muß seinen Sinn betauben,

Gottes Wort in Einfalt glauben.

Selig ist, der glaubt der Lehr'!


Fußnoten

1 D.h. straff angezogen.


Quelle:
Auserlesene Gedichte von Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken, Andreas Scultetus, Justus Georg Schottel, Adam Olearius und Johann Scheffler, Leipzig 1826, S. 32-35.
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