|
[100] 1.
O wie scheinbar trost von oben
Endtlich durch die Wolcken bricht!
Nie noch keine Stralen gaben/
Noch Crystall so reines liecht;
O wie wol wird meinem hertzen!
O wie klar mein angesicht!
Weichet/ weichet angst vnd schmertzen/
Darff nun ewer weiter nicht.
2.
Euch hinaussen trollt mit hauffen/
Fliehet hin zur Finstren nacht:
Lauter frewden kommen lauffen/
Lufft/ vnd wetter wider lacht.
Kelt/ vnd winter ist gebrochen/
Trübsäl ist nun sauber hin/
Trawrigkeit ist gar erstochen/
Fröligkeit ist mein gewin.
[100]
3.
Eya lasset vns spatziren/
JESV viel geliebter mein/
Weil die gärten sich nun zieren/
Weil die Blümlein offen seyn/
Weil die grüne wiesen lachen/
Weil die pflantzen voller zweig/
Weil die vögel nester machen/
Kinderbettlein zart vnd weich.
4.
Schaw die reine Brünlein springen
Hoch in lären lufft hinein;
Schaw die zarte vöglein singen
Wunder/ wunder süß/ vnd rein;
Schaw die Bächlein lieblich sausen/
Klar wie lauter Silberschein;
Schaw die Bienen ernstlich hausen
Rauben/ klauben honig ein.
5.
Ach ihr Bienlein/ ach jhr fehlet/
Ledig fahret jhr nach hauß:
Nur von JESV lefftzen stehlet;
Dannen klaubet honig auß:
JESV lefftzen/ mund/ vnd augen
Voll deß besten safftes seyn.
Da thut nun hinfürter saugen:
Noch so viel es bringet ein.
[101]
6.
Newlich ich in trawren stunde/
Ware voller bitterkeit:
JESVM da gecreutzigt funde/
Klaget jhm daß hertzen-leyd:
Lieblich thät ich jhn vmbhälsen/
Küsset seine wangen beyd;
Gleich mir sprang von diesem Felsen
Brunn/ vnd bach der süssigkeit.
7.
Warlich war ich gar zerschlagen/
War von lauter trawren matt:
Bin nunmehr in frewden-tagen/
Bin von lauter lüsten satt.
Trübnuß hatte mich vmbzogen/
Ware mehr dan halber todt:
Nunmehr hab ichs leben sogen
Nur auß JESV lefftzen roth.
8.
Drumb jhr Bienlein/ last euch sagen/
Kombt mit hauffen/ kombt hinzu:
JESV lefftzen sollet nagen/
Mercket was ich rahten thu.
Wil die warheit nit verhälen/
Nirgend besser blumen sein:
Dorten wollet waidlich stehlen/
Rauben/ klauben honig ein.
[102]
9.
Weidet jene süsse wangen/
Euch nur freundlich klebet an/
Sauget/ hauchet/ bleibet hangen/
Bessers niemand rahten kan.
Von den augen JESV fallen
Runde thränen silber-weiß/
Von der stirnen roth corallen;
Beyde seind euch geben preiß.
10.
Da thut sauber honig machen/
Lauter süß- vnd liebligkeit/
Labung so für kranck- vnd schwachen/
Dienen mag zu jeder zeit;
Wan dan werd in ängsten stecken/
Brauchen wil ich solchen safft/
Weiß fürwar es wird erklecken/
Zweiffel nit ich finde krafft.
Ausgewählte Ausgaben von
Trutznachtigall
|
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro