Gase [6]

[303] Gase (gasförmige Körper), Verflüssigung derselben. Im Jahre 1902 gelang es Claude [1], Luft zu verflüssigen, indem er an Stelle von Lindes Drosselventil einen Arbeitszylinder setzte, in welchem die Luft unter Leistung äußerer Arbeit von hohem auf niedrigeren Druck expandierte. Dabei braucht die zu verflüssigende Luft nicht auf so hohen Druck gebracht zu werden als bei der Entspannung durch ein Drosselventil ohne äußere Arbeitsleistung.

Im Jahre 1908 verflüssigte Kamerlingh-Onnes auch das Helium, indem er es unter hohem Druck durch flüssigen, bei vermindertem Druck siedenden Wasserstoff auf –259° C. abkühlte und dann entspannte. Die kritische Temperatur des Heliums liegt bei –264°, der[303] Siedepunkt bei –268,7°. Durch Erniedrigung des Druckes gelang es ihm, eine Temperatur von –271,5° zu erreichen, die also nur noch um etwa 1,5° vom absoluten Nullpunkt entfernt ist, und bei diesen äußerst tiefen Temperaturen eine Reihe sehr interessanter Untersuchungen anzustellen [2]. – Im letzten Jahrzehnt hat die Luftverflüssigung eine große technische Bedeutung erlangt. Im Jahre 1902 gelang es C. Linde [3], durch Anwendung der von der Spiritusindustrie bekannten Rektifikation auf flüssige Luft in wirtschaftlicher Weise reinen Sauerstoff und durch eine weitere Verbesserung im Jahre 1903 [4] auch reinen Stickstoff herzustellen.

Bei dem ersteren Verfahren wird flüssige Luft durch eine Kolonne abwärts geführt, in welcher sauerstoffreiche Dämpfe aufsteigen. Indem sich die beiden Ströme gegenseitig in großer Oberfläche berühren, geben entsprechend den Gleichgewichtsverhältnissen die Dämpfe den weniger flüchtigen Sauerstoff an die Flüssigkeit, dagegen die Flüssigkeit den flüchtigeren Stickstoff an die Dämpfe ab, so daß aus der Kolonne unten flüssiger Sauerstoff von beliebiger Reinheit ausfließt und oben Dämpfe austreten, die, mit der oben einströmenden Luft von atmosphärischer Zusammensetzung im Gleichgewicht stehend, noch etwa 7% Sauerstoff enthalten. Setzt man gemäß dem zweiten Verfahren auf die Kolonne eine Verlängerung auf, durch die ein Teil der oben ausgetretenen Dämpfe von neuem verflüssigt herunterrieselt, so wird den Dämpfen auch noch der Rest des Sauerstoffs entzogen und reiner Stickstoff gewonnen. Weitere Verbesserungen enthalten u.a. die deutschen Patentschriften Nr. 173276 und 203814. Diese Methoden dienen in großem Maßstabe zur Herstellung von Sauerstoff, hauptsächlich für die autogene Metallbearbeitung, auch für die Fabrikation synthetischer Edelsteine und von Stickstoff für die Fabrikation von Calciumcyanamid (s. Kalkstickstoff), von Metalldrahtlampen und zur Lagerung feuergefährlicher Flüssigkeiten. Durch besondere Rektifikationsvorrichtungen können aus flüssiger Luft auch Argon und die Edelgase Neon und Helium gewonnen werden. Auch andre Gasgemische lassen sich durch Verflüssigung und Rektifikation in ihre Bestandteile zerlegen, z.B. Gemische von Methan, Aethan und Aethylen, oder durch fraktionierte Kondensation, wobei nur der weniger flüchtige Teil verflüssigt wird, der flüchtigere aber gasförmig bleibt. Letzteres Verfahren wird in großem Maßstabe bei Wassergas angewandt, das im wesentlichen aus gleichen Teilen Wasserstoff und Kohlenoxyd besteht [5]. – Das Kohlenoxyd wird bei einer Temperatur von – 195 bis 200° verflüssigt und von dem gasförmig bleibenden Wasserstoff abgeschieden. Ersteres wird in der Regel als Motorgas zum Antrieb der Gastrennungsanlage verwendet, kann aber auch auf Cyanverbindungen und Formiate verarbeitet werden. Der Wasserstoff, der in einer Reinheit von 97 bis 98,5% gewonnen wird, findet Verwendung zur Füllung von Luftschiffen, bei der Herstellung von Wolframdrähten für Metalldrahtlampen, bei der autogenen Metallbearbeitung, in neuester Zeit und in sehr großem Maßstabe bei der Fetthärtung und der synthetischen Ammoniakdarstellung.


Literatur: [1] G. Claude, L'air liquide, Paris 1903. – [2] Commun. of the Kryogen Lab. of Leyden 1911. – [3] Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1902, S. 1173. – [4] Deutsche Patentschrift Nr. 180014. – [5] R. Linde, Zeitschr. für die ges. Kälteindustr., Januar 1911.

F. Linde.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 303-304.
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