Momentanachse

[475] Momentanachse. Die allgemeinste Bewegung eines unveränderlichen Systems (Körpers) ist eine Schrauben- oder Windungsbewegung, bestehend in einer Drehung um eine Achse und einer Parallelverschiebung längs derselben. Die Elementarbewegung des Systems, welche dasselbe aus der der Zeit t entsprechenden Lage in die unmittelbar folgende, der Zeit t + d t entsprechenden Lage überführt, ist daher eine unendlich kleine Windungsbewegung von dem unendlich kleinen Drehwinkel d ϑ um eine bestimmte Achse Γ, in Verbindung mit einer unendlich kleinen Verschiebung d τ längs derselben. Die Achse dieser Windungsbewegung ist die Momentanachse des Systems zur Zeit t, die zugehörige Winkelgeschwindigkeit d ϑ / d t und die Translationsgeschwindigkeit d τ/d t.

Die Momentanachse ist eine bestimmte Linie Γ des Körpers in bestimmter Lage C im Räume; sie wechselt im allgemeinen im Körper und wechselt ihre Lage im Räume von Moment zu Moment. Zwei unmittelbar aufeinander folgende Momentanachsen, entsprechend den Zeiten t und t + d t, haben einen kürzesten Abstand d p voneinander und kreuzen sich unter einem unendlich kleinen Winkel d σ. Der Quotient d p/d σ = x heißt der Parameter der Elementarbewegung zur Zeit t. Die Aufeinanderfolge der Momentanachsen Γ bildet im Körper eine geradlinige (im allgemeinen windschiefe) Fläche (Γ) und die Aufeinanderfolge aller ihrer Lagen C im Räume eine zweite geradlinige Fläche (C). Beide Flächen berühren sich zur Zeit t längs den vereinigten Geraden Γ, C. Denn sind Γ' und C' die zur Zeit t + d t vereinigten, aber zur Zeit t noch getrennten Achsen, so werden sie innerhalb des Zeitelementes d t durch Schraubung um die vereinigte Achse C Γ ihrerseits zur Deckung gebracht und die beiden windschiefen Flächen (Γ) und (C) haben die zwischen den Geraden Γ Γ' und C C' liegenden windschiefen Streifen gemeinsam. Durch die Elementarbewegung rollt und gleitet (schrotet) daher die Fläche (Γ) über die Fläche (C). Vermöge des Dualismus der Bewegung (s.d.) rollt und gleitet für die umgekehrte Bewegung die Fläche (C) auf der Fläche (Γ), und es vertauschen beide Flächen ihre Rollen.

Auf jeder Erzeugungslinie einer windschiefen Fläche gibt es einen ausgezeichneten Punkt, den Zentralpunkt derselben. Er ist der Fußpunkt des kürzesten Abstandes der Erzeugungslinie von der unmittelbar folgenden Erzeugungslinie. Die Tangentenebene im Zentralpunkt (Zentralebene) enthält die Richtung des kürzesten Abstandes. Es kann leicht gezeigt werden, daß die Tangentenebene in einem Punkte der Erzeugungslinie, dessen Abstand vom Zentralpunkte x ist,[475] gegen die Zentralebene unter einem Winkel δ geneigt ist, wofür tg δ = x : κ, wenn κ, wie oben, den Parameter bezeichnet. Sind daher für zwei solche Flächen die Parameter zweier zusammenfallenden Erzeugungslinien dieselben und fallen die Zentralebenen zusammen, so fallen alle Tangentenebenen paarweise zusammen und es berühren sich die Flächen längs dieser zusammenfallenden Erzeugungslinien. Die Translationskomponente d τ der Elementarbewegung des Systems verschiebt die Momentanachse Γ längs C bis zum Zusammenfallen der Zentralpunkte, und die Rotationskomponente d ϑ bringt Γ' sodann zur Deckung mit C. Die Aufeinanderfolge der Fußpunkte der kürzesten Abstände bilden auf den beiden sich berührenden Flächen (Γ), (C) zwei ausgezeichnete Kurven, die Striktionslinien derselben. Sie bilden im allgemeinen verschiedene Winkel mit der Erzeugungslinie Γ, C. Sind diese Winkel aber gleich, so ist die Translationskomponente der Elementarbewegung Null und die Fläche (Γ) rollt über die Fläche (C) hin, ohne an ihr zu gleiten. Es sind so viele Bewegungen eines unveränderlichen Systems möglich, als geradlinige Flächenpaare (Γ), (C) aufeinander rollen und gleiten können. Man erkennt aber leicht, daß wegen der notwendigen Gleichheit der Parameter entsprechender Erzeugender nur windschiefe auf windschiefen und nur abwickelbare auf abwickelbaren Flächen rollen und gleiten können sowie daß auch nicht alle Gattungen abwickelbarer Flächen sich dazu eignen. So können Kegel- und Zylinderflächen nicht aufeinander rollen und gleiten.

Die Momentanachse wechselt im Körper und im Räume; zwei aufeinander folgende Momentanachsen bilden einen Winkel d σ miteinander und haben einen kürzesten Abstand d p voneinander. Läßt man eine Gerade sich mit dem Körper so bewegen, daß sie in jedem Augenblick mit der Momentanachse zusammenfällt, so rotiert sie um d σ um die Linie des kürzesten Abstandes der beiden Momentanachsen und schreitet parallel derselben um d p fort. Sie hat daher selbst eine Windungsbewegung um den kürzesten Abstand der Windungsachse mit der Winkelgeschwindigkeit ψ = /dt und der Translationsgeschwindigkeit u = dp/dt Beide zusammen bilden die Wechselgeschwindigkeit der Momentanachse. u wird die Orthogonalgeschwindigkeit der Momentanachse genannt, weil sie zu dieser senkrecht ist.

Durch die Flächen (Γ) und (C) ist die Bewegung des Körpers charakterisiert. Für die ebene Bewegung (s. Bd. 1, S. 765) sind sie Zylinderflächen, deren Durchschnitte mit der Ebene die Kurven der Momentanzentra sind; für die Rotation des Körpers um einen festen Punkt sind sie Kegelflächen. Sie können übrigens Zylinderflächen sein, ohne daß die zu den Zylinderachsen senkrechten Ebenen in denselben Ebenen des Raumes bleiben; die ebene Bewegung ergibt sich nur dann, wenn die Translationskomponente der Windungsbewegung um die Momentanachse Null ist.


Literatur: Die Auffindung der Momentanachse verdankt man dem Florentiner Giulio Mozzi, dessen Schrift: Discorso matematico sopra il rotamento momentaneo dei corpi, Napoli 1768, in Vergessenheit geriet. Chasles fand 1830, ohne diese Schrift zu kennen die Elementarwindungsbewegung wieder (Bulletin des sciences mathematiques, par Férrussac, Nov. 1830). – Weitere hierauf bezügliche Arbeiten von Chasles sind: Proprietés géométriques relatives an mouvement infiniment petit d'un corps solide libre dans l'espace, Compt. rend. de l'academie des sciences, Paris 1843, Bd. 16, S. 1420–1432; Propriétés relatives au deplacement fini quelconque, dans l'espace, d'une figure de forme invariable, Compt. rend., Bd. 51 (1860), Bd. 52 (1861); Resal, Traité de cinématique pure, Paris 1862, Kap. III, 3; Bour, Cours de mecanique et machines, Cinématique, Paris 1865, S. 101; Poinsot, Theorie nouvelle de la rotation des corps, Liouville, Journ. de mathem., Bd. 16, S. 9 und 289 (1851); Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879, Bd. 1, S. 289–292 und S. 310–312; Schönfließ, Geometrie der Bewegung in synthetischer Darstellung, Leipzig 1886, S. 90 u. ff.; Koenigs, Leçons de cinématique, Paris 1897, S. 199 u.s.w.

(Schell) Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 6 Stuttgart, Leipzig 1908., S. 475-476.
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