Psychogenesis

[423] Psychogenesis (griech.), die Lehre von der Entwickelung des Seelenlebens, besonders beim Menschen. Der Begriff deckt sich zum Teil mit dem der Kinderpsychologie (s. d.), umfaßt aber auch die Lehre von den ersten Anfängen geistigen Lebens im Tierreich wie beim Neugebornen. Große methodische Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung der Prozesse, die unzweifelhaft als Ausdrücke geistigen Lebens zu deuten sind von den unbewußten Vorgängen im Nervensystem. Die Tierpsychologie (s. d.) und die Entwickelungsgeschichte der Seele des Neugebornen haben hier dieselben methodischen Probleme zu lösen. Solange wir auf Ausdrucksbewegungen als Zeichen geistigen Lebens angewiesen sind, also für den Menschen mindestens im ganzen ersten Lebensjahr, ist größte Vorsicht in der Annahme psychischer Vorgänge geboten, wie z. B. die Erfahrung lehrt, daß menschliche Mißgeburten, denen das Gehirn völlig fehlt, bei denen also von Bewußtsein keine Rede sein kann, beim Schmecken süßer oder bitterer Stoffe, wie normale Neugeborne, den typischen Gesichtsausdruck des »Süßen« oder »Bittern« zeigen. Alle Bewegungen der Neugebornen sind Reflexe, unbewußte Vorgänge, das Schreien und Strampeln ebenso wie die zweckmäßigen Saugbewegungen. Große Sinnesgebiete fehlen in den ersten Lebenstagen noch fast ganz. Während Tastsinn, Geruch und Geschmack ziemlich gut ausgebildet sind und auch Temperatursinn vorhanden ist, fehlen Gehörs- und Gesichtssinn fast völlig. Besonders der letztere entwickelt sich relativ langsam. In den ersten Wochen zeigen sich höchstens Wirkungen des Wechsels von Hell und Dunkel, ohne daß einzelne Objekte gesehen werden. Erst im Laufe der fünften Woche etwa beginnt das Kind, Dinge, die in der Richtung seiner Sehlinien gelegen sind, zu fixieren, während seitlich, peripher im Gesichtsfeld gelegene Gegenstände noch keinen wahrnehmbaren Eindruck hervorrufen. Im fünften Monat endlich treten die Augenbewegungen[423] auf, die notwendig sind, um peripher gelegene Objekte zu fixieren. Von den Reflexen, die beim Erwachsenen zu beobachten sind, fehlen dem Neugebornen viele, z. B. das Schließen der Lider bei Annäherung von Fremdkörpern, der Blinzelreflex. Die vorhandenen einfachen Reflexe laufen ganz maschinenmäßig ab, ohne die Möglichkeit einer Unterdrückung durch Hemmungen, wie sie im weitern Laufe der Entwickelung immer stärker hervortreten, um so stärker, je höher das allgemeine intellektuelle und moralische Niveau des Individuums steigt. Entsprechend diesem allmählichen Auftreten der Funktionen, die an die Ausbildung des Gehirns geknüpft sind, entwickelt sich dieses, wie die Anatomie lehrt, erst nach und nach. Im Laufe des ersten Lebensjahres treten immer deutlicher die Züge hervor, die für das funktionstüchtige menschliche Gehirn bezeichnend sind. Zwischen die Zeit von der fertigen Ausbildung der Sinnesorgane und ihrer Verbindung mit Teilen des Großhirns, wie sie im 4.–5. Monat schon in weitem Umfange bestehen, und die Zeit, wo das Kind zu sprechen beginnt und so unzweideutig sein, dem unsrigen ähnliches, geistiges Leben bekundet, schiebt sich die Periode des Erwachens der ersten psychischen Fähigkeiten, die sich im Erkennen der Eltern, in Greifbewegungen, im Lächeln, Weinen etc. deutlich bekundet. Hier ist bereits Gedächtnis vorhanden, und in der Fähigkeit zu unterscheiden, z. B. die Eltern von fremden Personen, liegt bereits ein stummes Anschauungsurteil. Einen Ausdruck in der Sprache gewinnen diese Prozesse erst im Beginn des zweiten Lebensjahres, und erst gegen Ende desselben treten formale Urteile und Schlüsse in Form gesprochener Sätze auf, die ersten klaren Zeichen der logischen Fähigkeiten, die auch vorher schon (wenn auch in geringerer Stärke) bestanden. Die weitere Entwickelung von Sprechen und Denken beim Kinde, die ja erst in der Pubertät zu einem gewissen Abschluß gelangt, ist mehrfach eingehend studiert worden, in der Hoffnung, daß auch hier sich das biogenetische Grundgesetz (s. Entwickelungsgeschichte) bewahrheiten würde und wir in der geistigen Entwickelung des Kindes eine rasche Rekapitulation der Veränderungen sehen würden, die das Menschengeschlecht von den niedersten Stufen halber Tierheit an bis zum modernen Kulturmenschen in undenklich langer Zeit durchlaufen hat. In der Tat bestehen zahlreiche in die Augen springende Analogien zwischen der Ausbildung der Sprache, des Denkens und Schreibens, der moralischen und sozialen Fähigkeiten beim Kind und bei der Rasse. Vgl. Probst, Gehirn und Seele des Kindes (Berl. 1904); Ament, Die Entwickelung von Sprechen und Denken beim Kinde (Leipz. 1899); Baldwin, Mental development in child and race (3. Aufl., Lond. 1897; deutsch von Ortmann, Berl. 1898); »Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie«, hrsg. von Schiller und Ziehen (Berl., seit 1898), darin Monroe, Die Entwickelung des sozialen Bewußtseins des Kindes (1899); Compayré, Die Entwickelung der Kindesseele (deutsch von Ufer, Altenb. 1899) und die Literatur bei Artikel »Kinderpsychologie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 423-424.
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