Vierte Familie: Springmäuse (Dipodida)

Geripp des Pfeilspringers. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Pfeilspringers. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

[327] Die Springmäuse, welche nach unserer Eintheilung eine Familie, nach Ansicht neuerer Forscher die Unterordnung (Dipodida) bilden, erinnern in ihrem Baue lebhaft an die Kängurus. Dasselbe Mißverhältnis des Leibes wie bei diesen, zeigt sich auch bei ihnen. Der hintere Theil des Körpers ist verstärkt, und die hinteren Beine überragen die vorderen wohl dreimal an Länge; der Schwanz ist verhältnismäßig ebenso lang, aber gewöhnlich am hinteren Ende zweizeilig bequastet. Dagegen unterscheidet die Springmäuse ihr Kopf wesentlich von den Springbeutelthieren. Er ist sehr dick und trägt die verhältnismäßig längsten Schnurren aller Säugethiere überhaupt: Schnurren, welche oft ebenso lang sind als der Körper selbst. Große Augen deuten auf nächtliches Leben, sind aber lebhaft und anmuthig wie bei wenig anderen Nachtthieren; mittelgroße, aufrechtstehende löffelförmige Ohren von ein Drittel bis zur ganzen Kopflänge bezeichnen das Gehör als nicht minder entwickelten Sinn. Der Hals ist sehr dick und unbeweglich, der Rumpf eigentlich schlank. An den kleinen Vorderpfoten finden sich gewöhnlich fünf Zehen, an den hinteren drei, zuweilen mit einer oder zwei Afterzehen. Der Pelz ist dicht und weich, bei den verschiedenen Arten und Sippen sehr übereinstimmend, nämlich dem Sande ähnlich gefärbt. Auch der innere Leibesbau hat manches ganz eigenthümliche. Das Gebiß ist nicht besonders auffällig gebildet. Die Nagezähne sind bei einigen glatt, bei anderen gefurcht; die Anzahl der Backenzähne beträgt drei oder vier für jede Reihe; auch findet sich oben ein stummelhafter Zahn vor den drei eigentlichen Backenzähnen. Den Schädel kennzeichnet der breite Hirnkasten und die ungeheuren Gehörblasen. Die Halswirbel, mit Ausnahme des Atlas, verwachsen oft in ein einziges Knochenstück. Die Wirbelsäule besteht aus elf bis zwölf Rückenwirbeln, sieben bis acht Lendenwirbeln und drei bis vier Kreuzwirbeln; die Anzahl der Schwanzwirbel steigt bis auf dreißig. Am Mittelfuße verschmelzen die verschiedenen, nebeneinander liegenden Knochen in einen einzigen, an dessen Ende die Gelenkköpfe für die einzelnen Zehen stehen.

Die Springmäuse bewohnen vorzugsweise Afrika und Asien; einige Arten reichen aber auch nach Südeuropa herüber, und eine Sippe oder Unterfamilie ist Nordamerika eigen. Sie sind Bewohner des trockenen, freien Feldes, der grasreichen Steppe und der dürren Sandwüsten, also eigentliche Wüstenthiere, wie auch die Färbung augenblicklich erkennen läßt. Auf lehmigem oder sandigem Boden, in den Niederungen, seltener auf Anhöhen oder an dichten, buschigen Wiesensäumen und in der Nähe von Feldern, schlagen sie ihre Wohnsitze auf, selbstgegrabene, unterirdische Höhlen, mit vielen verzweigten, aber meist sehr seichten Gängen, welche immer mit zahlreichen Ausgängen münden. Bei Tage in ihren Bauen verborgen, erscheinen sie nach Sonnenuntergang und führen dann ein heiteres Leben. Ihre Nahrung besteht in Wurzeln, Zwiebeln, mancherlei Körnern [327] und Samen, Früchten, Blättern, Gras und Kräutern. Einige verzehren auch Kerbthiere, ja selbst kleine Vögel, gehen sogar das Aas an und fressen unter Umständen einander auf. Die Nahrung nehmen sie zu sich, in halb aufrechter Stellung auf das Hintertheil und den Schwanz gestützt, das Futter mit den Vorderpfoten zum Munde führend.

Ihr Bewegungen sind eigenthümlicher Art. Der ruhige Gang unterscheidet sich von dem des Känguru insofern, als sie in rascher Folge ein Bein vor das andere setzen; bei eiligem Laufe aber fördern sie sich sprungweise, indem sie sich mit den kräftigen Hinterfüßen hoch emporschnellen, mit dem zweizeiligen Schwanze die Richtung regeln und so das Gleichgewicht des Körpers erhalten. Dabei legen sie die Vorderbeine entweder an das Kinn oder, wie ein schnellaufender Mensch, gekreuzt an die Brust, scheinen dann auch wirklich nur zwei Beine zu besitzen. Die größeren Arten vermögen gewaltige Sätze auszuführen; denn man kann von allen sagen, daß diese das Zwanzigfache ihrer Leibeslänge betragen. Ein Sprung folgt unmittelbar auf den andern, und wenn sie in voller Flucht sind, sieht man eigentlich bloß einen gelben Gegenstand, welcher in seichten Bogen wie ein Pfeil die Luft durchschießt. Mit ebenso großer Behendigkeit graben sie im Boden, trotz der schwachen Vorderfüße, welche diese Arbeit hauptsächlich verrichten müssen. Während sie weiden, gehen sie, ebenfalls wieder wie Kängurus auf vier Beinen, jedoch sehr langsam und immer nur auf kurze Zeit. Im Sitzen ruhen sie auf den Sohlen der Hinterfüße.

Alle Arten sind scharfsinnig, namentlich feinhörig und fernsichtig, wissen daher drohenden Gefahren leicht zu entgehen. Aeußerst furchtsam, scheu und flüchtig, suchen sie sich bei jeder Störung so eilig als möglich nach ihrem Baue zu retten oder ergreifen, wenn ihnen dies nicht möglich wird, mit rasender Schnelligkeit die Flucht. Die größte Art vertheidigt sich im allerhöchsten Nothfalle nach Känguruart mit den Hinterbeinen, die kleineren dagegen machen, wenn sie ergriffen werden, nie von ihren natürlichen Waffen Gebrauch.

Ihre Stimme besteht in einer Art von Winseln, welches dem Geschreie junger Katzen ähnlich ist, bei anderen wohl auch in einem dumpfen Grunzen. Aber man hört nur selten überhaupt einen Ton von ihnen. Bei geringer Wärme verfallen sie in Winterschlaf oder erstarren wenigstens auf kurze Zeit, tragen aber nicht, wie andere Nager, Vorräthe für den Winter ein.

Gefangene Springmäuse sind überaus angenehme und anmuthige Gesellschafter des Menschen; ihre Gutmüthigkeit, Sanftmuth und Harmlosigkeit erwirbt ihnen Jedermann zum Freunde.

Fast alle Arten sind durchaus unschädlich. Die freie Wüste bietet ihnen soviel, daß sie nicht nöthig haben, das Besitzthum des Menschen zu plündern. Eine Art soll zwar auch die Pflanzungen und Felder besuchen und Schaden anrichten, diesen durch ihr schmackhaftes Wildpret und ihr Fell jedoch wieder aufwiegen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 327-328.
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