Bahnwagenfahrten

[466] Bahnwagenfahrten, Kleinwagenfahrten, Fahrten mit Bahnwagen, Bahnmeisterwagen (Rollwagen), Draisinen, Eisenbahnfahrrädern, Gleismessern, überhaupt allen unter den Begriff der Kleinwagen (s. Bahndienstwagen) fallenden Wagenarten, zur Beförderung der für die Bahn- und Telegraphenunterhaltung und für die Bahnwärter erforderlichen Materialien und Geräte, der mit der Arbeitsleitung und der Kontrolle des Bahnunterhaltungs- und Aufsichtsdienstes betrauten Beamten, ferner der Bahnärzte, Hebammen (in dringenden Fällen), der Zahlmeister u.s.w. zu den Arbeitsstellen, Wärterposten, Lohnzahlungen, etwa auch zu Verhandlungs- und Unfallstellen zwischen zwei Stationen. Diese zwischen dem Zugverkehr nach Bedarf vorzunehmenden Fahrten erfordern, weil sie nicht unter dem Schutze der Signale vor sich gehen, weitgehende Vorsichtsmaßregeln, bei deren Außerachtlassung sie eine stete Gefahr für die Beteiligten und für den Zugverkehr bilden. Sie sind daher auf das Notwendigste zu beschränken. In der Nacht, bei Nebel, Störungen in den Signal- und Blockanlagen sowie im Zugverkehr, sollten sie gänzlich unterlassen und verboten werden. Infolge der Unzuträglichkeiten, die bei den B. vorkommen, haben viele Bahnverwaltungen, namentlich französische und englische, versucht, sie durch Arbeitszüge (s.d.) gänzlich zu ersetzen, jedoch ohne den gewünschten Erfolg. B. sind daher nach wie vor bei Beachtung bestimmter Vorsichtsmaßregeln bei den meisten Bahnen gestattet.

Die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung für die Haupt- und Nebeneisenbahnen Deutschlands vom 4. November 1904 bestimmt in § 72 über von Hand bewegte Wagen und Kleinwagen folgendes:

»Eisenbahn- und Kleinwagen, die durch Menschen oder Tiere bewegt werden, und Triebkleinwagen dürfen nur mit Vorwissen der benachbarten Bahnhöfe auf die freie Strecke gebracht werden.

Derartige Fahrzeuge müssen von einem verantwortlichen Betriebsbeamten begleitet sein und spätestens 15 Minuten vor der mutmaßlichen Ankunft eines Zuges aus dem Gleis entfernt werden. Sie sind bei Dunkelheit mit Lichtsignalen zu versehen.«

Nach den deutschen Fahrdienstvorschriften vom 1. August 1907 ist die Benutzung von Kleinwagen untersagt:

a) den Bahnmeistern bei den regelmäßigen Streckenuntersuchungen, wenn ihnen hierzu nicht etwa Eisenbahnfahrräder überwiesen sind;

b) den Arbeitern, um von der Wohnung zur Arbeitstelle und zurück oder zur Lohnauszahlung zu fahren;

c) zu nichtdienstlichen persönlichen Zwecken, abgesehen bei Beförderung von Umzugsgut, Brennmaterial und Wasser für Bahnbeamte, die an der freien Strecke wohnen, nach besonderer Genehmigung.

Draisinen und Fahrräder müssen mit kräftig wirkender Bremse versehen sein, die vom Führer vor Antritt der Fahrt zu untersuchen ist. Für die Fahrt hat der Führer die Zustimmung des Fahrdienstleiters der Ausgangsstation einzuholen. Für die Fahrten auf freier Strecke ist eine Fahranweisung in der Regel durch den Bahnmeister aufzustellen. Wird der[466] Wagen auf der freien Strecke zeitweilig ausgesetzt, so hat der Führer Aussetzen und Wiedereinsetzen den beiden benachbarten Zugmeldestellen mit dem Streckenfernsprecher anzuzeigen, wenn hierzu in einer Entfernung von 500 m Gelegenheit gegeben ist. Kleinwagen müssen unbedingt aus dem Gleis entfernt werden, wenn durch das Abläutesignal, durch Signale an einem Zug, oder durch ein Hauptsignal für das Gleis ein Zug angezeigt wird, dessen Fahrordnung dem Führer nicht bekannt ist, sowie bei Ertönen des Gefahrsignals. Die vorübergehend ausgehobenen Kleinwagen sind zu bewachen oder mit Kette und Schloß festzulegen. Sie sollen auf freier Strecke nur bei einem Wärterhaus aufgestellt werden.

Nach den österreichischen Vorschriften dürfen B. nur unter persönlicher Leitung eines verantwortlichen Bahnerhaltungsorganes erfolgen und muß der Bahnwagen von so vielen Arbeitern begleitet sein, als erforderlich sind, um ihn schnell aus dem Gleise heben zu können.

Auf Strecken mit stärkeren Neigungen als 5 dürfen nur Bahnwagen mit Bremsen verkehren. Ein Bahnwagen darf eine Station erst dann verlassen, wenn der Zugexpedient die Erlaubnis zur Fahrt schriftlich mittels eines Passierscheines erteilt hat, der unter anderem die Angabe enthält, ob die Fahrt auf dem richtigen oder unrichtigen Gleis erfolgt.

Der Leiter einer B. muß mit einer gut gerichteten Uhr, mit einer Mundpfeife und einem Fahrordnungsverzeichnis versehen sein. Außerdem muß der Bahnwagen mit Signalmitteln so ausgerüstet sein, daß die notwendigen Signale gleichzeitig nach vorn und rückwärts gegeben werden können.

Mindestens 15 Minuten vor dem Eintreffen eines zu erwartenden Zuges muß das von diesem Zuge zu befahrende Gleis geräumt sein. Die Fahrgeschwindigkeit des Bahnwagens darf nur so groß sein, daß er auf eine Entfernung von höchstens 80 m unbedingt zum Stillstand gebracht werden kann. Aus Rücksicht für die zu Fuß gehenden Begleiter dürfen beladene Bahnwagen nur mit einer Geschwindigkeit von höchstens 8 km in der Stunde fahren. In Tunneln, die im Bogen liegen, hat dem Bahnwagen ein Arbeiter mit Laterne oder Fackel auf 80 m Entfernung vorauszugehen.

B. mit explosiven Gütern dürfen nur unter Aufsicht und Verantwortung eines mit den Verkehrsvorschriften vollkommen vertrauten Organes sowie unter bestimmten Vorsichten unternommen werden.

Bei verschiedenen Verwaltungen besteht die Bestimmung, daß auf Gebirgsstrecken mit größeren Steigungen Draisinenfahrten nicht unternommen werden dürfen (s. Bahnmeisterwagen, Bahndienstwagen und Draisinen).

Nach den belgischen Verkehrsvorschriften ist es strenge verboten, 2 Bahnwagen gleichzeitig nach einem Punkte zwischen benachbarten Stationen zu senden oder 2 Wagen zusammengekuppelt laufen zu lassen. Der Bahnwagen muß 10 Minuten vor dem fahrplanmäßigen Eintreffen eines Zuges aus dem Gleise gehoben sein. Sind die Bahnwagen nicht in Verwendung, so sind die Räder mit Ketten und Vorhängschloß zu versichern. Die B. dürfen nur unter Leitung eines verantwortlichen Organes vor sich gehen und sind die notwendigen Signalmittel mitzuführen. Die Geschwindigkeit darf bei Tage und auf dem richtigen Gleis höchstens 12 km, bei Nacht oder bei Verkehr auf dem unrichtigen Gleis höchstens 7∙5 km betragen.

Auf den englischen Bahnen dürfen B. nur mit Wissen des Rottenführers unternommen werden und auf zweigleisigen Strecken nur auf dem richtigen Gleis stattfinden.

v. Weikard.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 1. Berlin, Wien 1912, S. 466-467.
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