Hilfszug

[194] Hilfszug (relief train; train de secours; treno di soccorso), Sonderzug, der bei Unfällen zur Hilfeleistung an die Unfallstelle entsendet wird. Wenn es auch gelingt, die Sicherheit des Eisenbahnbetriebes immer weiter zu heben, so muß doch bei der fortschreitenden Erweiterung des Schienennetzes, der zunehmenden Dichtigkeit des Zugverkehrs und der Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit mit dem Vorkommen von Unfällen auch fernerhin gerechnet werden. Die Eisenbahnverwaltungen[194] sind daher bemüht, die Maßnahmen immer weiter auszubilden, die geeignet sind, die Folgen der Unfälle zu mildern. Hierher gehört in erster Linie die Bereithaltung von Mitteln zur Hilfeleistung bei Verletzungen, von Werkzeugen und sonstigen Geräten zur Beseitigung der bei Unfällen und Betriebsstörungen eintretenden Schäden an den Fahrzeugen und Bahnanlagen. Um bei kleineren Unfällen in dieser Beziehung stets gerüstet zu sein, werden auf den Stationen und in den Zügen die für die Behandlung von Verletzungen nötigen Mittel und die zur Beseitigung von Schäden an den Fahrzeugen erforderlichen Werkzeuge bereitgehalten. Für die deutschen Eisenbahnen ist dies durch die BO. im § 59 ausdrücklich vorgeschrieben und bestimmt, daß Hilfsmittel zur Beseitigung von Zugtrennungen, Gerätschaften zum Ausbessern kleiner Schäden und die bei Unfällen zunächst erforderlichen Werkzeuge in den Zügen mitzuführen sind. In den dem Personenverkehr dienenden Zügen müssen außerdem Mittel zur ersten Hilfeleistung bei Verletzungen bereitgehalten werden. Für größere Unfälle reicht diese Fürsorge aber bei weitem nicht aus. Die dann zu leistende Hilfe sowie die Arbeiten zur Wiedereinrichtung des gestörten Betriebs erfordern umfangreiche Maßnahmen. Sie bestehen in erster Linie in der Bereithaltung vollständiger H. mit Arztwagen, Gerätewagen und Mannschaftswagen, denen im Einzelfall nach Bedarf noch Wagen für besondere Zwecke – Beleuchtungswagen, Kranwagen u.s.w. – beigegeben werden. Die H. werden auf den größeren Betriebsstationen, auf denen das zu ihrer Bedienung nötige Personal vorhanden ist, in steter Dienstbereitschaft gehalten.

Der Arztwagen des H. enthält die zur ärztlichen Hilfeleistung erforderlichen Gegenstände und Tragbahren oder Betten zur Aufnahme von 8–10 Verletzten. Eine Abteilung des Wagens ist in der Regel als Operationsraum hergerichtet und mit den erforderlichen Geräten und Instrumenten ausgerüstet. Die Eingänge zum Wagen befinden sich an den Kopfseiten. Um die Tragbahren mit den Verletzten bequem hinein- und herausheben zu können, ist das Geländer der Plattform umlegbar eingerichtet. Die Tragbahren werden zu je zweien übereinander im Krankenraum des Wagens in ähnlicher Weise in Federn aufgehängt, wie dies für die Beförderung Verwundeter im Kriegsfall vorgesehen ist.

In den Gerätewagen der H. befinden sich die Werkzeuge und Hilfsmittel, die zu den Aufräumungs- und Aufgleichungsarbeiten, zur Zubereitung von Getränken und Speisen für die Arbeiter sowie zur Beleuchtung der Unfallstelle gebraucht werden. Für den letzteren Zweck werden auch wohl besondere Beleuchtungswagen (s.d.) in den H. eingestellt oder nachträglich zur Unfallstelle gesendet. Zur Verständigung mit der nächstgelegenen Station von der Unfallstelle aus wird im H. ein tragbarer Fernsprecher mitgeführt. Sind Personen bei einem Unfall nicht verletzt, so unterbleibt die Mitgabe des Arztwagens. Der H. wird dann nur aus Gerätewagen gebildet, in dem auch Handwerker und Arbeiter Platz nehmen.


Im Bereich der preußischen Staatsbahnen sind H., bestehend aus Arzt- und einem oder mehreren Gerätewagen, auf etwa 90 Stationen bereitgestellt; außerdem befinden sich auf etwa der doppelten Anzahl von Stationen Gerätewagen, die hier zur Unterscheidung von den eigentlichen H. als Hilfsgerätewagen bezeichnet werden. Im Durchschnitt entfällt auf einen H. ein Streckenbezirk von 400 km Ausdehnung und auf einen Hilfsgerätewagen ein solcher von 200 km. Der Arztwagen besteht aus zwei Räumen, dem Arztraum mit Abortabteil und dem Krankenraum. Im Arztraum sind die notwendigen Mittel für die erste Hilfe und für sofort nötige lebensrettende Eingriffe untergebracht. Der Krankenraum enthält zwei Gruppen von je vier Betten zur Unterbringung von Schwerverletzten und Stühle zur Aufnahme von Leichtverletzten. Die Gerätewagen bestehen aus drei Abteilungen, eine Abteilung für Beamte, eine Abteilung für Werkzeuge und eine Abteilung für Arbeiter. Das Beamtenabteil enthält einen größeren Verbandmittelschrank, so daß unter Umständen auch ohne Arztwagen mit dem Gerätewagen allein Hilfe gebracht werden kann (vgl. Ztg. d. VDEV. 1902, S. 326 u. 666). Die für die Begleitung und Bedienung der H. erforderlichen Ärzte, Beamten, Handwerker und Arbeiter werden für diesen Dienst im voraus bestimmt und mit der Einrichtung und Ausrüstung der Wagen sowie mit der Ausübung der Hilfs- und Rettungsarbeiten durch Ausbildung im Samariterdienst eingehend vertraut gemacht. Es ist dies umsomehr nötig, als die Inanspruchnahme der einzelnen H. bei ernsten Unfällen so selten vorkommt, daß es andernfalls den Bediensteten an jeder Übung fehlen würde. Auf den preußischen Staatsbahnen wird jeder H. mindestens einmal im Jahre unvermutet zu einer nächtlichen Übung telegraphisch herbeigerufen, zu der ganz wie im Ernstfalle alle beteiligten Ärzte, Beamten, Handwerker und Arbeiter herangezogen werden. Wenn bei einem Unfall Personen schwer verletzt sind, so wird der zur Hilfeleistung bestimmte H. als dringlicher H. zur Unfallstelle befördert. Er hat dann nach § 70 der BO. vor allen anderen Zügen den Vorrang. Da es vorkommen kann, daß H. in der Nacht Bahnstrecken zu einer Zeit befahren müssen, während der der Dienst ruht, die Bahn also nicht bewacht wird, so ist für diese Züge eine Ausnahme von den Bestimmungen im § 175 der TV. und § 69 der BO. zugelassen, die vorschreiben, daß Sonderzüge nur befördert werden dürfen, wenn die Bahn bewacht, der Zug vorher angekündigt und der nächsten Station ordnungsmäßig gemeldet ist. Die H. müssen in solchen Ausnahmsfällen jedoch mit ermäßigter Geschwindigkeit verkehren. Nach § 66 (10) der BO. darf ihre Geschwindigkeit höchstens 30 km i. d. St. betragen.[195]

Die Station, auf der ein H. aufgestellt ist, hat sofort nach dem Bekanntwerden eines Unfalles mit größter Beschleunigung die Absendung des H. nach der Unfallstelle vorzubereiten. Für das Meldeverfahren und den Nachrichtendienst bei Unfällen bestehen in der Regel ausführliche Bestimmungen. Bei den preußischen und bei den sächsischen Staatsbahnen sind sie in den »Vorschriften für das Meldeverfahren und den Nachrichtendienst sowie für die Verwendung der H. und Hilfsgerätewagen bei Unfällen, Betriebsstörungen und außergewöhnlichen Ereignissen« zusammengestellt. Nach diesen Vorschriften soll der H. bei Tage spätestens 30 Minuten und bei Nacht spätestens 45 Minuten nach Eingang der telegraphischen Anforderung abfahren. Soweit die für den H. bestimmten Ärzte, Beamten und Arbeiter nicht ohne Zeitverlust durch Boten herbeigerufen werden können, sind Fernsprech- oder Weckereinrichtungen für diesen Zweck vorgesehen. Während die genannten Personen herbeigerufen werden, wird auch eine Lokomotive für den Zug herangeschafft, dieser selbst zusammengestellt und in das Abfahrgleis gebracht; inzwischen bereitet die Station den Fahrplan für die Sonderfahrt vor und gibt ihn soweit angängig, den beteiligten Stationen bis zur Unfallstelle telegraphisch bekannt. Durch solche bis ins einzelne ausgearbeitete Vorschriften und durch Schulung und Ausbildung des Personals ist es möglich geworden, in verhältnismäßig kurzer Zeit nach Eintritt eines Unfalles an der Unfallstelle tatkräftig einzugreifen, den Verletzten Hilfe zu bringen und die Arbeiten zur Wiederaufnahme des Betriebs mit Nachdruck zu fördern.

Ähnliche Einrichtungen bestehen auf den übrigen deutschen Staatsbahnen. Die H. der badischen Staatsbahnen sind gebildet aus einem Arztwagen, einem Wagen mit den Geräten und Werkzeugen zum Beseitigen und Aufgleisen der beschädigten Betriebsmittel, dem Gerätewagen und einem dritten Fahrzeuge, das als Aufenthalts- und Ruheraum der mit der Räumung befaßten Beamten und Arbeiter dient und auch einen Küchenraum enthält, dem Mannschaftswagen. Im ganzen sind je sechs Geräte- und Mannschaftswagen sowie fünf Ärztewagen vorhanden und zu H. vereinigt auf geeigneten Bahnhöfen des Netzes bereitgestellt. Der leitende Gedanke war auch hier, daß bei leichten, ohne Schädigung von Menschenleben und nahe dem Standorte des H. verlaufenden Unfällen von voraussichtlich kurzer Dauer der Räumungsarbeiten nur der Gerätewagen auszurücken braucht, während bei schweren oder weiter vom Standort entfernten Unfällen auch der Mannschaftswagen mitgenommen wird. Der Arztwagen soll nur bei Unfällen verwendet werden, die Schädigung von Menschenleben zur Folge hatten. Sämtliche Fahrzeuge sind dreiachsig, mit in besonderen Gestellen verschiebbaren Mittelachsen gebaut. Vergleiche die ausführliche Beschreibung dieser H. und auch des Arztwagens der oldenburgischen Staatsbahnen, Bulletin, Januar 1913 sowie des Arztwagens der sächsischen Staatsbahnen, Zeitschr. für Bahn- und Bahnkassenärzte. Leipzig 1912, S. 300.

Auf den österreichischen Staatsbahnen dienen zur Beförderung von Verletzten in der Regel bedeckte Güterwagen. Zur Sicherung einer möglichst raschen und zweckdienlichen Hilfeleistung bei Verletzungen von Personen infolge von Eisenbahnunfällen sind in allen Stationen, die mit einem Requisitenwagen dotiert sind, Sanitätswagen aufgestellt und überdies aus Bediensteten aller Kategorien zusammengesetzte von den Bahnärzten praktisch geschulte Sanitätskorps errichtet.

Ende 1909 waren auf sämtlichen Linien der österr. Staatsbahnen insgesamt 47 Sanitätswagen zur Aufstellung gelangt und 49 Sanitätskorps organisiert, von welch letzteren 37 über Mannschaften von mindestens 20 Mann, die übrigen über solche von weniger als 20 Mann verfügten. Die Leitung und Einübung besorgten 49 Korpsärzte und 49 Korpsführer.

Im Jahre 1912 belief sieh die Anzahl der Sanitätskorps auf 63.

Auf den belgischen Eisenbahnen ist der Hilfsdienst durch eine Dienstvorschrift »Service de secours aux malades et aux blessés« geregelt. Auf 58 Stationen des Bahnnetzes befinden sich Hilfswagen, durch die die auf diesen Stationen vorrätig zu haltenden Hilfsmittel nach der Unfallstelle zu schaffen sind. Die Tragbahren für Verletzte können auf zweirädrigen Wagen fortbewegt und während der Eisenbahnfahrt in Abteilwagen 3. Klasse einerseits am Gepäcknetz, anderseits an der Rücklehne aufgehängt werden.

In den Niederlanden wird die Bereithaltung von Arztwagen für die H. nicht für erforderlich gehalten. Man ist hier der Ansicht, daß Operationen weder an der Unfallstelle noch auf dem Wege zum Krankenhause oder zur Wohnung nötig sind. Wegen der dichten Bevölkerung wird angenommen, daß ein Unfall nie in größerer Entfernung von einem Krankenhause vorkommen kann. Vgl. Eisenbahnhygiene in den Niederlanden, kurze Übersicht von Dr. D. Romeyn, Eisenbahninspektor in Breda.

In Rußland haben die Eisenbahnverwaltungen gleichfalls Einrichtungen für die Hilfeleistung bei Unfällen getroffen. So besitzt die Warschau-Wiener Bahn drei Hilfeleistungszüge, die aus je drei Wagen gebildet und zur Aufnahme von Ärzten, Handwerkern und Arbeitern sowie dem nötigen Gerät eingerichtet sind.

Bei den englischen Eisenbahnen ist in jeder Hauptbetriebsstation eine Hilfsanlage vorgesehen, ausgerüstet mit einem mächtigen Kran mit hydraulischer Hebevorrichtung und allen Ausrüstungen, die für irgendeine Art von Unfällen nötig sind. Ferner ist hierzu vorgesehen eine Gruppe von Werkleuten, die zu jeder Stunde des Tages und der Nacht bereit sein müssen, den H. zu begleiten. Dieser besteht aus einer Lokomotive, einem Kranwagen mit Verankerung am Gleis, einem Werkzeug- und Verbandzeugwagen und je nach Erfordernis 1–3 Güterwagen. Die Mannschaft nimmt im Werkzeugwagen Platz.


Eine gute Beleuchtung der Unfallstelle ist für die Förderung der Aufräumungsarbeiten außerordentlich förderlich. Sie wird jetzt meist durch Laternen erreicht, die mit Azetylengas gespeist werden und die in verschiedenen Größen als Hand- und Standlaternen im H. mitgeführt werden. Die Zubereitung des Gases erfolgt bei den Handlaternen ähnlich wie bei den für Fahrräder und Automobile gebräuchlichen Laternen, während die Standlaternen auf größeren Behältern zur Aufnahme von Karbid und Wasser angebracht sind. – Ein weiteres wichtiges Gerät bilden besonders hergerichtete Hilfszug förmige Rillenschienen, die neben den Fahrschienen befestigt, einen rampenartigen Aufstieg zu den letzteren bilden und das Eingleisen von[196] Fahrzeugen außerordentlich erleichtern. Endlich dürfen an der Unfallstelle niedrige Bahnmeisterwagen, Rollwagen oder Rollböcke nicht fehlen, die vom Wagen losgelöste Drehgestelle oder einzelne Achsen ersetzen können, und durch deren Einbau die Fortschaffung solcher Wagen ganz wesentlich erleichtert wird. – Zur schleunigen Entfernung schwerer Eisenmassen hat sich die Mitführung von Sauerstoffschneidevorrichtungen bis zu einer Schnittstärke von 100 mm als sehr zweckdienlich erwiesen.

Breusing.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 6. Berlin, Wien 1914, S. 194-197.
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