Claßisch

[207] Claßisch. (Redende Künste)

Claßische Schriftsteller werden diejenigen genennt, die als Muster der guten und feinen Schreibart können angesehen werden; denn claßisch bedeutet in diesem Ausdruk so viel, als von der ersten oder obersten Classe. Wer Sachen schreibt, die gründlich gedacht und so ausgedrukt sind, daß Personen von reiffem Verstand und gutem Geschmak nicht nur an jedem Gedanken, sondern auch an jedem einzeln Ausdruk Gefallen haben, der gehört in diese Classe. Nur die Nationen können solche Schriftsteller haben, bey denen die Vernunft sich auf einen hohen Grad entwikelt hat; wo das gesellschaftliche Leben und der tägliche Umgang zu einer Vollkommenheit gestiegen ist, daß der Verstand und der feine Geschmak die Sinnlichkeit weit überwiegt. Nur alsdenn fangen die Menschen an, an Gegenständen, die blos auf den Verstand und auf die feinern Empfindungen würken, ein Vergnügen zu haben. Dieses würkt bey denen, die vorzüglichen Verstand und Geschmak haben, das Bestreben, auch die Gegenstände, die nicht stark auf die Sinnen würken, mit Aufmerksamkeit zu betrachten, die feinern Beziehungen der Dinge zu bemerken, und dadurch für die Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens ein neues Feld zu eröfnen, das wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit der Gegenstände unerschöpflich ist. Sie entdeken in der Geisterwelt, in den Gedanken und Empfindungen, eine neue Natur, eine Welt, die an intereßanten Begebenheiten, an mannigfaltigen Verwiklungen, [207] an fürtreflichen Aussichten, weit fruchtbarer, und an Vergnügungen weit reicher ist, als die gröbere, blos auf die äussern Sinnen würkende Natur. Wer einmal mit dieser unsichtbaren Welt bekannt worden, der führt alles, was zur feinesten Ergötzlichkeit, zur angenehmsten Unterhaltung nöthig ist, beständig mit sich, und entfaltet in dem gesellschaftlichen Leben mancherley Scenen dieser unsichtbaren Natur; er macht die, welche mit ihm umgehen, aufmerksam darauf, und so breitet sich ein feiner Geschmak an Gegenständen des Verstandes und des Witzes nach und nach in der menschlichen Gesellschaft aus. Man lernt Dinge hochschätzen, die in einem rohern Zustand, ganz unbemerkt geblieben sind; man sieht diejenigen, welche die neuen Quellen dieses feinen Vergnügens eröfnet haben, als wolthätige und für die Gesellschaft wichtige Männer an. Durch diese Ehre ermuntert verdoppeln sie ihre Kräfte, dringen immer tiefer in die Beobachtung der sittlichen Welt hinein, und wenden die äusserste Sorgfalt an, alles was sie bemerkt haben, andern auf die vollkommenste Art mitzutheilen. So breitet sich Verstand und Geschmak nach und nach über die feinen Gesellschaften aus. Alsdenn erscheinen die Schriftsteller, die auch für die Nachwelt claßisch bleiben, weil sie aus der unveränderlichen Quelle alles Guten und Schönen, der Natur, geschöpft haben.

Es scheinet, daß der Mensch ein gewisses Maas von Verstandeskräften habe, in die Beschaffenheit sittlicher Gegenstände einzudringen, welches er nicht überschreiten kann, und daß die besten Köpfe jeder Nation, die sich die Cultur des Verstandes ernstlich hat angelegen seyn lassen, den höchsten Grad dieses Maasses erreichen. Daher geschieht es denn, daß die Schriften dieser Männer, in welcher Nation und in welchem Jahrhundert sie gelebt haben mögen, jeder andern Nation, die ohngefehr auch den höchsten Grad der Vernunft erreicht hat, nothwendig gefallen müssen. Diese sind alsdenn die wahren claßischen Schriftsteller für alle Völker.

Der beste Schriftsteller einer Nation aber, die jenen hohen Grad der Cultur noch nicht erreicht hat, kann seiner Nation sehr gefallen, kann einen allgemeinen Ruhm bey seinen Zeitverwandten haben, ohne in die Zahl der claßischen Schriftsteller zu gehören. Nicht die besten jeder Nation sind claßische Schriftsteller, sondern die besten der Nation, welche die Cultur der Vernunft auf das höchste gebracht hat.

Auch nicht die Cultur des Verstandes, die nur auf das abstrakte Denken geht, die alle Begriffe bis auf das einfacheste auflöset, bildet solche Schriftsteller; denn unter allen Scholastikern findet sich keiner. Also können die strengen Wissenschaften unter einem Volke auf einen hohen Grad der Vollkommenheit gestiegen seyn, ohne daß sie einen einzigen claßischen Schriftsteller hat. Der claßische Verstand geht nicht auf das Abstrakte; er setzt das Mannigfaltige in einer Sache nicht aus einander, sondern weiß es in seiner Mannigfaltigkeit einfach zu sagen, und es dem anschauenden Erkenntniß klar darzustellen. Er macht mehr feine, ein durchdringendes Aug erfodernde Beobachtungen, als richtige auf die Entwiklung der Begriffe gegründete Schlüsse. Der abstrakte Denker sagt mit viel Worten wenig, weil er blos die höchste Gewißheit zum Augenmerk hat: der claßische Denker sagt in wenig Worten viel, und giebt uns durch einen kurzen und leicht zu fassenden Spruch, das Resultat eines langen und scharfen Nachdenkens.

Der scharfe Beobachtungsgeist, der die Haupteigenschaft eines claßischen Kopfs ist, entwikelt sich nicht durch das Studium der abstrakten Wissenschaften; wird nicht durch die Arbeit im Cabinet ausgebildet, sondern in der Welt, unter Geschäften, und vornehmlich durch den Umgang mit Menschen, die denselben schon besitzen. Nicht die Schulen, sondern die Gesellschaft, da wo sie sich am meisten mit grossen Gegenständen beschäftiget, wo die schnelle Anstrengung der Verstandeskräfte nothwendig wird, wo man vieles auf einmal übersehen, und sich angewöhnen muß, auch ohne methodisches Nachdenken gründlich zu seyn, geben dem Geist die Stärke, die männliche Kühnheit und die Sicherheit, welche zum claßischen Denken nöthig ist. Doch kann ein glükliches Genie, durch den blossen lebendigen oder todten Umgang mit wahrhaftig claßischen Köpfen, sich selbst zum claßischen Schriftsteller bilden.

Wenn diese Anmerkungen ihre Richtigkeit haben, so können daher die Gründe angegeben werden, warum ohne irgend einen Mangel an Genie, bis itzt noch so wenig deutsche Schriftsteller sich hervorgethan haben, von denen man vermuthen kann, daß sie, sowol bey der deutschen Nachwelt, als auch bey andern Nationen, als claßische Schriftsteller werden angesehen werden. [208] Daß überhaupt aller Orten mehr claßische Dichter, als andre claßische Schriftsteller erscheinen, läßt sich leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Empfindungen zeigen sich allemal früher, als der Verstand und der Beobachtungsgeist; also können sie in einer Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen, als die Talente, die nur auf eine gewisse Grösse des Verstandes gegründet sind. Daher ist es, wie Cicero angemerkt hat,1 leichter, einen grossen Dichter, als einen grossen Redner anzutreffen.

1Multo tamen pauciores oratores quam poetae boni reperientur. Cic. de Orat. Lib. I.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 207-209.
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