Erweiterung

[350] Erweiterung. (Beredsamkeit)

Longinus giebt folgende Erklärung davon; sie sey eine vollständige Zusammentragung aller, einer Sache [350] zugehörigen, Umständen und Eigenschaften, wodurch die Hauptvorstellung ihre wahre Größe und Stärke erhält. Man kann nämlich eine Sache entweder blos nennen, oder auf die kürzeste Weise nach dem, was ihr wesentlich oder zufällig zukommt, anzeigen, oder man kann sie weitläuftiger nach ihren Eigenschaften, Würkungen und verschiedenen Verhältnissen beschreiben. Wenn also der Redner, nachdem er das, was wesentlich zu seinem Gegenstande gehört, gesagt hat, noch etwas hinzuthut, um die Vorstellung zu verstärken, sie lebhafter zu machen, oder ihr eine weitere Ausdähnung zu geben, so gehört dieses zur Erweiterung. Man setze, daß ein geistlicher Redner an einer Stelle seiner Rede nöthig habe, die Vorstellung von Gottes Allwissenheit zu erweken. Der Satz: Gott ist allwissend, wär hier das Wesentliche, was er zu sagen hat; thut er hinzu: alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige, was würklich geschieht oder blos möglich ist, stellt sich ihm deutlich dar; so ist dieser Zusatz eine Erweiterung.

Der Vortrag des Dichters und des Redners unterscheidet sich von dem Vortrag des forschenden und lehrenden Philosophen hauptsächlich durch die Erweiterungen, die ihnen vorzüglich eigen sind. Bisweilen ist eine ganze Rede, oder ein ganzes Gedicht nichts anders, als ein einziger Gedanken, der durch mancherley Erweiterungen lebhafter und einleuchtender gemacht worden. So ist die siebende Ode des 1 Buches beym Horaz nichts anders, als eine Erweiterung eines sehr einfachen Gedankens.

Ein wichtiger Theil der Kunst des Redners und Dichters besteht demnach in der Geschiklichkeit zu erweitern; wenigstens ist sie bey dem Redner beynahe die Hauptsache. Wenn man von bekannten Dingen zureden hat; wenn in einer lehrenden Rede alles, was man anzubringen hat, klar und verständlich ist, so sind die Erweiterungen das einzige Mittel der Rede aufzuhelfen, die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu reizen und dem Vortrag ästhetische Kraft zu geben.

Die Erweiterung hat sowol bey einzelen Gedanken, oder bey besondern Theilen einer Rede, als bey der ganzen Rede überhaupt statt, deren Würkung beym Schluß dadurch verstärkt werden kann. In so fern ist sie ein Haupttheil des Beschlusses der Rede, und so sieht sie Cicero an.1

Wenn man das, was wesentlich zu Erwekung gewisser Vorstellungen, zur Ueberzeugung oder zur Rührung gehört, vorgetragen hat; so können wegen der völligen Würkung des Vorgetragenen noch zweyerley Zweifel entstehen. Entweder hat der Zuhörer noch nicht Zeit genug gehabt sich den Vorstellungen so zu überlassen, daß er ihre völlige Würkung schon gefühlt hätte, denn dazu gehört allemal, nach den Fähigkeiten des Zuhörers, mehr oder weniger Zeit; oder die Vorstellungen haben ihrer Gründlichkeit und Richtigkeit ungeachtet nicht genug ästhetische Kraft, weil sie zu abgezogen, zu einfach, zu speculativ sind. In diesen beyden Fällen muß der Redner seine Zuflucht zur Erweiterung nehmen. Sie verursachet im erstern Fall eine Verweilung auf den Vorstellungen, von denen man die Würkung erwartet. Der Zuhörer bekommt dadurch Zeit sich den Eindrüken zu überlassen. Es geht bey den offenbaresten Wahrheiten nicht an, daß der Redner die Sätze so unaufgehalten nach einander vortrage, wie man es bey einem geometrischen Beweis thut. Jeder Satz muß nothwendig eine Zeitlang der Vorstellungskraft gegenwärtig seyn, wenn man seine Wahrheit recht einleuchtend empfinden soll. Diese Verweilung kann nicht durch Unterbrechung des Vortrages, durch ein Verweilen des Redners erhalten werden; er muß fortreden. Also bleibet ihm nur das Mittel übrig, das, was er gesagt hat, noch einmal auf eine andre Art zu sagen; etwas hinzuzusetzen, das die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf denselben Begriffen unterhält; dieselbe Hauptsach in einem andern und noch andern Lichte zu zeigen. Dieses heißt aber den Satz Erweitern. Man kann deswegen bey der Beweisart, die man Induktion nennt2, diese Erweiterung am leichtesten anbringen, wenn man mehrere Fälle zum deutlichen Begriff der Sachen aussucht, wovon das, was am angezogenen Ort aus dem Xenophon angeführt worden, zum Beyspiel dienen kann. Die Geschiklichkeit, die Zuhörer durch geschikte Erweiterungen eine hinlängliche Weile bey gewissen Hauptvorstellungen aufzuhalten, bis sie ihre Würkung gethan haben, ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Talente des Redners, ohne welches die höchste Gründlichkeit und Scharfsinnigkeit ihm sehr wenig hilft.

Eben so nothwendig ist auch die Erweiterung in dem andern Fall, wo das wesentliche der Vorstellungen [351] gar zu einfach ist. Denn dadurch verliert es seine ästhetische Kraft; es beschäftiget blos den Verstand und hat keine Würkung auf das Gemüth. Was also abstrakt und einfach gesagt worden, weil die Natur der Sachen dieses erfodert, das muß durch die Erweiterung der Einbildungskraft und dem anschauenden Erkenntnis nun auch noch lebhafter, sinnlicher, mit mehrern verstärkenden Nebenbegriffen gesagt werden. So wie Haller, nachdem er gesagt hat:


Unendlichkeit, wer misset dich?


durch Erweiterung hinzu thut


Vor dir sind Welten Tag' und Menschen Augenblicke.


Es ist überhaupt offenbar, daß die Kraft der Beredsamkeit großen Theils von geschikten Erweiterungen abhange, ohne welche die gründlichste Rede troken und ohne Kraft ist. Vielleicht hat der an sich gründliche, aber alle Erweiterungen verschmähende Vortrag der größten Philosophen, die seit einem halben Jahrhundert in Deutschland ein Licht angezündet, worauf es sonst stolz seyn kann, gar viel dazu beygetragen, daß wir in der Beredsamkeit noch so weit hinter andern Völkern zurüke geblieben sind.

Denen, welchen aufgetragen ist, die Jugend zur Beredsamkeit anzuführen, kann man nicht genung wiederholen, daß sie dieselbe fleißig, aber auch mit hinlänglicher Gründlichkeit in allen Arten der Erweiterungen üben müssen. Aber weh ihnen, wenn sie die wahre Kraft der Erweiterungen nicht fühlen; wenn sie sich einbilden, es komme nur auf die Menge der Wörter, auf bloße Wiederholung derselben Sache in andern Ausdrüken, oder Aufhäufung einer Menge nichtsbedeutender Nebenumständen an.

Wir wünschten zur Aufnahm der wahren Beredsamkeit, daß ein der Sache gewachsener Mann die Arbeit auf sich nehmen möge, diesen wichtigen Theil der Redekunst in seinem ganzen Umfang abzuhandeln. Woher kommt es doch, daß wir eine so große Menge critischer Schriften über alles, was zur Dichtkunst gehört, haben, und so sehr wenig, was der noch in der Zeugung liegenden Beredsamkeit aufhelfen könnte?

1Partitiones Orat.
2S. Beweisarten S. 161.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 350-352.
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Faksimiles:
350 | 351 | 352
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