Fundamentalbaß

[410] Fundamentalbaß. (Musik)

Ist in einem geschriebenen Tonstük eine Reyhe tiefer Noten, die die wahren Grundtöne der Harmonie anzeigen. Nämlich der Baß, welcher gesungen oder gespielt wird, enthält nur die tiefsten Töne, aber nicht allemal die Grundtöne der Accorde, weil verschiedene Accorde in ihren Verwechslungen genommen werden1. Folgendes Beyspiel wird dieses erläutern:

Fundamentalbaß

[410] Hier enthält das obere Liniensystem die Noten des Baßes, so wie sie gespielt werden; das untere aber die Noten, welche die eigentlichen Grundtöne jedes Accords anzeigen, und ist also der Fundamentalbaß, der auch Grundbaß genennt wird.

Dieser Baß ist also nicht zum Spielen, wird auch selten, und in Deutschland fast niemals geschrieben. In zweifelhaften Fällen, wo man anstehen könnte, auf welcher Grundharmonie gewisse Accorde beruhen, kann er so gleich die Zweifel heben, wie aus folgendem Beyspiel zu sehen ist:

Fundamentalbaß

Man könnte hier den Septimen-Accord auf dem Ton G für den wesentlichen Septimen-Accord auf der Dominante des Hauptones halten2, und sich wundern, warum nach demselben nicht ein Schluß nach C erfolgte; der darunter geschriebene Fundamentalbaß zeiget, daß dieses ein verwechselter Sept-Nonenaccord auf dem Grundton E sey, auf welchen der Schluß nach A geschehen muß.

Wer nur einigermaaßen mit den wahren Regeln der Harmonie bekannt ist, hat selten nöthig, daß ihm dieselbe erst durch einen Fundamentalbaß erläutert werde. Daher kömmt es, daß in Deutschland und Italien des Fundamentalbaßes ehedem nie, und noch itzt selten gedacht wird, ob man gleich ofte von der Grundharmonie spricht. Rameau hast zuerst einen geschriebenen Fundamentalbaß eingeführet, daher seine Landsleute ihn für den Erfinder desselben ausgeben. Einige derselben sind so unwissend, daß sie mit lächerlicher Dreistigkeit vorgeben: Rameau habe die Wissenschaft der Harmonie, die vor ihm sehr ungewiß gewesen, zuerst auf Grundsätze zurük geführt, und zuerst gezeiget, daß gewisse Accorde keine wahren Grund-Accorde, sondern Verwechslungen andrer Fundamental-Accorde seyen. Diese Leute müssen also nicht wissen, daß die Wissenschaft des doppelten Contrapunkts, die viel italiänische und deutsche Tonsetzer unendlich besser, als Rameau verstanden haben, schlechterdings auf diese Kenntnis der Grundharmonien gebauet sey, indem es im doppelten Contrapunkt unmöglich ist, nur einen Takt ohne die Verwechslung der Accorde zu setzen. Was also mehr als hundert Jahre vor Rameau alle guten Tonsetzer gewußt und täglich ausgeübt haben, hat dieser wunderbare Mann, dieser einzige Gesetzgeber der Musik, zuerst erfunden. Rameau hat sich unstreitig um die Musik verdient gemacht; aber die Leute, die seit einigen Jahren so sehr dreiste schreiben und wiederholen, er sey der Erfinder der wahren Grundsätze der Harmonie, verrathen einen so gänzlichen Mangel der Kenntnis dessen, was vor ihrer Zeit in der Musik gethan worden, daß sie billig von einer Sache, die sie so gar nicht verstehen, nicht schreiben sollten.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 410-411.
Lizenz:
Faksimiles:
410 | 411
Kategorien: