Baum

[99] Baum. Nach den Mythen der Alten waren einzelne Bäume Wohnsitze gewisser Gottheiten, oder ihre besonderen Lieblinge. Solche Bäume standen unter dem Schutze derselben, und wurden desswegen von dem frommen Volkswahne für heilig gehalten. Es wurden Opfer unter ihnen gebracht, und aus dem Rauschen ihrer Blätter oder dem Vogelgesange auf ihren Wipfeln wollten die Opfernden die Stimme des Gottes vernehmen. Die Naturansicht der früheren Völker fand alles Wunderbare leicht erklärlich durch Götter, welche sie zur Ursache dieses Wunderbaren machten. So wohnten Dryaden in den Wäldern und einzelnen Bäumen, welche schützten, was ihrer Obhut übergeben war, und die an ihrem Heiligthume Frevelnden bestraften. Die Dichtkunst bemächtigte sich des reichhaltigen Stoffes, und schuf die Fabeln von dem Oelbaum der Minerva, dem Lorbeer des Apollo, dem Granatbaum der Proserpina, dem Fichtenbaum Neptuns, dem Myrtenbaum der Venus, der Eiche des Jupiter u.s.w.; so wurden verschiedene Bäume den einzelnen Gottheiten geweiht: die Esche dem Mars, weil man aus ihrem Holze Speere machte; die Cypresse dem Pluto, weil die Gräber damit bepflanzt wurden, die Pappel dem Hercules, die Erle dem Silvan, die Ceder den Eumeniden. - Den nordischen Völkern war dir majestätische, weithin schattende Eiche ein Gegenstand der Verehrung; die Preussen hatten viele heilige Eichen, in deren Dunkel die Bilder der drei grossen Götter standen, und welche zu berühren den unmittelbaren Tod zur Folge hatte, so wie auch sterben musste, wer einen heiligen Wald betrat. Auch die skandinavischen Völker verehrten Bäume, und selbst bis auf die neueste Zeit hat sich diese Verehrung erhalten; man schützt einzeln stehende, grosse Bäume durch Einzäunungen, man wählt sie zu Stellen für merkwürdige Versammlungen, überträgt ihnen Denkmale, pflanzt dauerhafte Bäume, wie die Eiche, die Linde u. a. zum Andenken u.s.w.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 99.
Lizenz:
Faksimiles: