Wahrheit, die

[1346] Die Wahrheit, plur. die -en, welches auf doppelter Art gebraucht wird.

1. Als ein Abstractum und ohne Plural, die Übereinstimmung eines Dinges mit einem andern zu bezeichnen, doch nur in folgenden Fällen. (1) Die Übereinstimmung des Mannigfaltigen in einer Sache. So ist die Wahrheit Gottes die vollkommenste Übereinstimmung alles in demselben befindlichen. So schreibt man in der Moral einem Menschen Wahrheit zu, wenn sein Verhalten mit seinem Zwecke übereinstimmig ist. (2) Die Übereinstimmung eines Satzes mit andern bekannten Wahrheiten, die Anwesenheit eines erweislichen Grundes, welches man die logische Wahrheit zu nennen pflegt; im Gegensatze des Irrthums. Die Wahrheit eines Satzes, eines Ausspruches, eines Urtheiles beweisen.[1346] (3) Die Übereinstimmung mit einem Urbilde, und in weiterer Bedeutung mit der Natur. So hat ein Porträt Wahrheit, wenn es dem Urbilde völlig ähnlich ist. Ein Gemählde hat Wahrheit, wenn die Vorstellung in allen Stücken der Natur gemäß ist. Die Rolle der Gleichgültigkeit mit vieler Wahrheit spielen, mit aller Übereinstimmung mit einem wirklich Gleichgültigen. (4) Die Übereinstimmung einer Rede sowohl mit der Sache selbst, als der Gemüthsfassung des Redenden, im Gegensatze der Unwahrheit, und im härtern Verstande der Lügen; welche nebst der folgenden Bedeutung in dem gesellschaftlichen Umgange die gewöhnlichste ist. In allen Fällen die Wahrheit lieben. Von der Wahrheit abweichen. Du bleibst nicht bey der Wahrheit. Der Wahrheit zu nahe treten. Neben der Wahrheit vorbey spatzieren, im gemeinen Leben. Mit der Wahrheit in das Geschrey kommen, mit Grunde in ein übles Gerücht kommen. Hinter die Wahrheit kommen, die Wahrheit, oder die wahre Beschaffenheit der Sache, erfahren. Da denn in Wahrheit und in der Wahrheit auch als eine schwache Betheurungs-Formel gebraucht wird. In Wahrheit, ich bin recht unglücklich. Ich weiß es in Wahrheit nicht. (5) Die wahre Beschaffenheit der Sache. Die Wahrheit reden, sagen, verfehlen, gestehen, bekennen. Die reine Wahrheit gestehen. Die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit aus jemanden bringen, das Geständniß der wahren Beschaffenheit der Sache. (6) Die Fertigkeit, in allen Fällen nur das, was wahr ist, zu reden; in welchem Verstande doch Wahrhaftigkeit üblicher ist.

2. Als ein Concretum. (1) Ein wahrer Satz, ein wahrer Ausspruch; mit dem Plural. Philosophische, theologische Wahrheiten. Nützliche Wahrheiten lehren. Hirngespinste für Wahrheiten halten. (2) Eine unangenehme Wahrheit; auch mit dem Plural. Jemanden die Wahrheit sagen, ihm einen Verweis geben. (3) Der Zusammenhang wahrer Sätze, der wahre Lehrbegriff; ohne Plural. Die Wahrheit predigen. Um der Wahrheit willen verfolget werden. Ein Zeuge der Wahrheit.

Anm. Bey dem Notker uuarheit; vor ihm waren dafür mit andern Ableitungssylben uuarnissi, uuarniss, uuarhafti und uuara üblich.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1346-1347.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: