Raum

[75] Raum, das Unerklärliche, alles Begränzende und Umschließende, was allen unsern Vorstellungen von äußern Dingen zum Grunde liegt. Lange hat man den Raum für etwas Wirkliches, für ein unermeßliches Behältniß aller Dinge gehalten. Aber eine ins Unendliche ausgedehnte und theilbare Substanz, ohne alle sichtbare Wirkung, ein Ding, das alle übrige in sich befaßt, ist ein Unding, ein Widerspruch. Oft verstand man auch unter Raum die unsichtbaren Flüssigkeiten, Luft, Aether, welche den Abstand zwischen sichtbaren Körpern, z. B. den Sonnen und Planeten, ausfüllen; oder man machte bei den crassen Vorstellungen von der Allgegenwart Gottes den Raum selbst zu Gott. Newton hielt ihn für das Sensorium der Gottheit, Worte, die wohl schwer zu übersetzen sein möchten. Leibnitz giebt den Raum als den Begriff der Verhältnisse, der Ordnung an, in der die äußern Gegenstände zu einander stehen. So wäre es also ein bloßer Begriff. Vergleichen wir ihn aber mit andern allgemeinen Begriffen, z. B. Schwere, Größe, Härte, so finden wir, daß diese ohne Gegenstand gar nicht gedacht werden können, da hingegen der Raum uns noch übrig bleibt, wenn wir auch alle Dinge aus der Welt hinaus denken; und dieses ist ein wesentlicher Unterschied. Kant lehrt daher, der Raum sei eine ursprüngliche Form des Anschauens, er sei die Bedingung, unter welcher unserer äußerer Sinn Vorstellungen von Objecten erhält. Und so erklärt sich die Allgemeinheit dieser Vorstellung, die Unmöglichkeit, den Raum hinweg zu denken, wenn wir auch die ganze sichtbare [75] Schöpfung in Gedanken aufheben, die Unmöglichkeit, uns die Verhältnisse desselben anders einzubilden, als sie erscheinen. So ergiebt sich auch, warum der Raum in der Mathematik immer als Axiom vorausgesetzt, nie aber erklärt wird, und warum in dieser Wissenschaft, die alles erklärt, eine Erklärung des Raums für ungereimt gehalten würde. Die Sätze: »der Raum hat nur drei Dimensionen (Höhe, Länge, Breite); zwei Dinge können nicht einen und eben denselben Raum einnehmen,« sind Grundsätze der Geometrie, welche nie erwiesen werden, ob sie gleich allen übrigen zur Basis dienen. Was die Unendlichkeit des Raums betrifft, so kann dieselbe von der Erfahrung nicht hergenommen sein; denn diese zeigt uns bloß beschränkte Gegenstände, die eben dadurch, daß sie beschränkt sind, Objecte für unsere Sinne werden. Endlich giebt es nach unserer ursprünglichen Vorstellung nur einen Raum; denn wenn wir auch von mehrern Räumen sprechen, so betrachten wir diese doch nur als Theile des unendlichen Raums. Diese Gründe können hinreichen, um darzuthun, daß der Raum eben so wenig etwas außer unserer Vorstellung Vorhandenes, als ein bloßer von allen äußern Gegenständen abgezogener Erfahrungsbegriff sei.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 75-76.
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