Revolution von Pohlen

[250] Revolution von Pohlen. Seit 1572, wo Pohlen aus einem Erbkönigreiche in ein Wahlkönigreich verwandelt wurde, hatte man den König allerdings sehr ohnmächtig gemacht; und es kam so weit, daß er ohne den Willen der ihn wählenden Stände nicht das geringste unternehmen, keine Gesetze geben, keinen Frieden beschließen konnte, und seine meisten Einkünfte verlor. Er wurde von dem Adel und der Geistlichkeit (denn diese machten allein mit Ausschluß der Bürger und Bauern die Reichsstände aus) beständig nach ihrer Willkühr geleitet. Auf den Reichstagen herrschte unaufhörliche Zwietracht; jede gute Anstalt wurde durch Parteigeist [250] und Adelsdespotismus vereitelt; jede neue Königswahl gab fremden Mächten Anlaß zur Bestechung der Großen und zur Zerrüttung des Reichs. Eine solche Gelegenheit bot sich besonders Rußland 1766 dar, als die Dissidenten (Nichtkatholiken) vom neugewählten König Stanislaus Poniatowsky die ihnen seit 1717 entrissenen Rechte, wenn auch nicht alle zurückforderten, aber doch wenigstens eine gesetzmäßige, billig fixirte Religionsfreiheit suchten (m. s. auch den Artik. Dissidenten). Der König war ihren Bitten geneigt, aber der Reichstag widersetzte sich; Rußland nahm sich ihrer zum Schein an, um so mehr, da man auch die Nichtunirten Griechen unter den Dissidenten mit begriff, und foderte nicht bloß eine gesetzmäßige gesicherte Toleranz für die Dissidenten, sondern völlige Geichheit derselben mit der katholischen Partei. Da alles abgeschlagen wurde, so kamen nun zahlreiche Heere nach Pohlen, zerstreuten die Conföderation zu Bar in Podolien, die den König abgesetzt hatte; und so herrschte nun Rußland über das unglückliche Land unumschränkt. – Eine der seltsamsten Unternehmungen ereignete sich zugleich, indem der König Stanislaus auf Veranstaltung des Conföderations-Marschalls Pulavsky, durch den Rittmeister Kosinsky den 3 Nov. 1771 Abends in seinem Wagen angefallen, fortgeschleppt und entführt, jedoch noch zeitig genug gerettet und schon den andern Morgen wieder in Warschau eingeführt wurde. Nun wurde auch 1772 zwischen Rußland, Preußen und Oesterreich, welche mit alten Ansprüchen hervortraten, eine Theilung projectirt; der Reichstag mußte sie 1773 genehmigen, und beinahe ein Viertheil des Staats ging verlohren (S. den Art. Friedrich der Zweite.) Auch entwarf Rußland eine neue Constitution, und garantirte sie 1775. Vermöge derselben wurde Statt des Reichsraths ein immerwährender Rath gestiftet, der den König ganz beherrschte; und Pohlens Existenz hing nun bloß von Rußland ab. In dieser bedrängten Lage erklärte König Friedrich Wilhelm II. von Preußen 1788 und 1790 die Russische Garantie für ungültig; und die Nation glaubte, voll von Hoffnung auf seine Hülfe, die Russischen Fesseln zerreißen zu können. Man entwarf eine neue Constitution, deren Hauptartikel Aufhebung des bisherigen Wahlreichs und [251] Einführung eines erblichen Königreichs war, und in welcher auch dem dritten Stande Repräsentanten versprochen wurden. Die Nation nahm sie den 3. Mai 1791 an, und Kosciusko, Kollontay und mehrere unternahmen die Vollziehung des großen Werks. Allein plötzlich erklärte Rußland die neueste Constitution für gesetzwidrig, rückte, als Garant der ältern, bei Gelegenheit der Targowiczer Gegenconföderation 1792 mit Truppen ein, schloß mit Preußen ein Offensivbündniß, schlug, mit diesem vereint, die entgegengesetzten Pohlen, eroberte das ganze Reich, entwarf 1793 eine neue Constitution, theilte das Reich noch einmahl, und ließ ihm kaum ein Drittheil seiner ehemahligen Länder. Der Reichstag genehmigte die neueste Constitution nebst der Theilung; und endlich 1794 und 95 unterwarf sich der übriggebliebene Theil der Nation ganz dem Russischen, Preußischen und Oesterreichischen Scepter. Auf diese Art verlor das unglückliche Pohlen sein politisches Dasein gerade in dem Zeitpunkte, als es, aus seinem bisherigen Todesschlummer erwacht, anfangen wollte, frei zu sein. (M. s. auch den Art. Kosciusko.) Ueber den letzten König, welcher den 15. Nov. 1795 dem Pohlnischen Throne entsagte, und dann den 12. Febr. 1798 zu Petersburg starb, sehe man den besondern Artikel Stanislaus Poniatowsky.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 250-252.
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