Schielen

[70] Schielen bezeichnet eine Regelwidrigkeit in der Stellung der Augen, welche darin besteht, daß beide Augäpfel oder auch nur einer von beiden bei Betrachtung der Gegenstände von der Sehachse abweichen, ohne daß jedoch dadurch der Schielende des Vermögens beraubt ist, das oder die schielenden Augen nach Willkür in jede beliebige Richtung zu bringen. Im Anfange ist das Schielen gewöhnlich mit Doppelsehen verbunden, was sich aber bei längerer Dauer des Übels wieder zu verlieren pflegt. Man unterscheidet im Allgemeinen vier verschiedene Arten von Schielen und zwar: 1) diejenige Art, bei der sich die Sehachsen der Augäpfel zu sehr einander, dadurch aber zugleich zu sehr der Nase nähern (bei ihr findet häufig auch Kurzsichtigkeit statt); 2) diejenige, bei der sich dieselben zu sehr voneinander entfernen, die Augäpfel sonach und zwar jeder seinerseits gegen den äußern Augenwinkel gerichtet sind; 3) diejenige, bei der das eine Auge nach oben, das andere nach unten gerichtet iß; 4) endlich diejenige Art des Schielens, welche mit einen sehr bezeichnenden Ausdrucke Übersichtigkeit genannt wird und darin besteht, daß ein Auge oder beide gerade nach oben stehen, ein Fehler, der gewöhnlich dadurch herbeigeführt wird, daß die Kinder, wenn sie liegen, ihnen interessante Gegenstände, welche über und hinter ihrem Kopfe sich befinden, oft und lange betrachten. Ist ein solcher hinter und über ihnen befindlicher Gegenstand die Scheibe eines sich stets hin und her bewegenden Uhrpendels, so verbindet sich damit wol auch noch ein beständiges Hin-und Herbewegen der Augäpfel nach beiden Seiten hin. Die Ursachen des Schielens können sehr verschieden sein. Oft begleitet es allgemeine Krankheitszustände als nur zufällige Erscheinung, als bloßes Symptom, wie z.B. die Wassersucht der Gehirnhöhlen, die Wurmkrankheit, die Epilepsie u.s.w. Am gewöhnlichsten ist das Schielen die Folge übler Gewohnheiten. Die Unsicherheit, mit welcher Neugeborene die Gegenstände auffassen, gibt zu einer Art von Schielen Veranlassung, die man bei fast allen Neugeborenen beobachtet. Nicht selten entsteht das Schielen auch nur durch Nachahmung, mitunter auch dadurch, daß das eine Auge eine von der des andern verschiedene Brennweite hat, weshalb die Brennweiten beider Augen sich nicht in den zweckmäßigsten Brennpunkt vereinigen können, vielmehr der eine Augapfel unsicher umherzuschwanken anfängt. Bei Kindern, bei denen das Übel überhaupt am leichtesten zu heilen ist, verschwindet es zuweilen ohne Zuthun der Kunst in dem Maße, als die Entwickelung des Körpers vorschreitet, während auf eine solche freiwillige Heilung bei Erwachsenen, die ohnehin von dem entstellenden Fehler schwerer zu befreien sind, als Kinder, nie zu hoffen ist. Ist es nur eine Folge übler Angewohnheit, so thun die besten Dienste eine Art von Brillen für Schielende, welche in zwei fest auf die Augen zu bindenden Kapseln bestehen, mit Öffnungen, welche so angebracht sind, daß das Auge, welches, um zu sehen, nach ihnen sich richten muß, in die gesundheitgemäße Stellung gezwungen wird.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 70.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: