Reize, weibliche

[386] Reize, weibliche. Die alten Dichter nannten deren zehn bis zwanzig; ein französischer Poet bedingte sogar dreißig, um ein Weib vollkommen schön zu nennen. Der Eine forderte das blaue Auge und schwarze Haar, der Andere das schwarze Auge und blonde Haar. Aber die weibliche Schönheit ist eben so tausendfacher Nüancen fähig, wie die Tonleiter harmonischer Modulationen. Wäre der Begriff der Schönheit stereotyp, so gäbe es keine Schönheiten mehr. Wir sagen die Rose ist schön, und doch ist es nur jede relativ zu einer andern. Jede Rose ist schön, die nicht absolut häßlich ist, und so hat jedes Weib einen Reiz, das nicht absolut häßlich ist. Die Variationen all' der verschiedenen Reize, ihre wechselvolle Zusammenstellung bildet eben das, was wir immer wieder neu, überraschend, reizend, schön nennen. – Das Weib kann reizend sein, ohne schön zu heißen. Reizend ist, was anzieht, besticht, frappirt – Schönheit ist Harmonie – sie kann erfreuen, [386] entzücken, überraschen und dennoch kalt lassen, d. h. nicht reizend sein. Es gibt Frauen, die den Idealen der Kunstbildner gleichen, sie erwecken Erstaunen, fesseln aber doch nicht – ihnen mangelt der Reiz. Umgekehrt gibt es Manche, die man nach den Schönheitsprincipien kaum hübsch nennen möchte, und dennoch sind sie durchaus reizend, hinreißend, entzückend. Das sind die Geheimnisse der Natur, die wir bis jetzt noch nicht auf mathematische Formeln zurückzuführen im Stande sind. – Wir wollen uns hier der Aufzählung der körperlichen Reize entheben, welche die vergeistigte Sinnlichkeit der Griechen und Römer, die schwelgerische Phantasie ihrer Dichter und Bildner zur Bedingung machte, und von den Reizen sprechen, welche, abgesehen von der Aeußerlichkeit, das Weib reizend erscheinen lassen. Unser christlich-modernes Schönheitsgefühl hat den Reiz des Weibes noch tiefer gesucht, als auf Stirne, Mund und Nacken. Schon der Troubadour des Mittelalters besang nicht allein Mund und Augen, Locken und Wangen seiner Herrin, sondern ihre Huld, ihre Minnigkeit, ihre Sittsamkeit, ihre Treue etc., während der epikuräische Moslim diese Eigenschaften bei seinen Schönen weder zu kennen, noch zu fühlen scheint, da er stets nur von dem Auge der Gazelle, vom Haar duftend wie Moschus, vom Mund wie Honig, und von Rosenwangen spricht. – Die aufsteigende Kultur hat das Weib nicht nur in sich, sondern auch in der Seele, in der Empfindung des Mannes mehr vergeistigt. – Und so erkennt der Mann der Kultur im Weibe einen doppelten Reiz, den der Form: den körperlichen, ausgeprägten, und jenen der Seele, den unbewußten, den undefinirbaren. Beide im wesentlichen Zusammenhange, schmelzen in ihrer Gefühlsanschauung auch in Eins, und er nennt oft ein Weib reizend, er fühlt ihren Reiz, ohne sich klar der Eigenschaften all, die ihn bezaubern, bewußt zu sein. – So läßt sich der Reiz weder der körperlichen, noch der geistigen Schöne ausschließlich zusprechen. Es gibt schöne Formen, denen die Anmuth fehlt, und[387] die Anmuth ist doch nur Reiz. Es gibt Profile, die ganz gegen die Gesetze der Schönheitslinie streiten, und dennoch vermöchte der Bildner durch ein edleres Profil kaum ein gleich reizendes Antlitz in seinem Totaleindrucke zu schaffen wagen. Dagegen gibt es Schönheiten, die dessenungeachtet alles Reizes entbehren, die kalt lassen, bewundert werden, aber nicht reizend sind, wie in einer anderen Zusammenstellung schon oben bemerkt worden ist. Die Theile einzeln für sich können mangelhaft sein in ihrer Zusammensetzung, in ihrer Totalität aber bilden sie eine Harmonie, und jede Harmonie ist Schönheit. Eine Schönheit der Disharmonien gibt es nicht. Will man aber diese Harmonie ungleicher Theile nicht schön nennen, so muß man sie reizend nennen. Ist das vom griechischen verschiedene römische Profil minder schön; ist das dunkelgefärbte Gesicht mit der Stumpfnase nicht oft reizender, als das hochgestirnte mit der Adlernase trotz der Regelmäßigkeit des Letzteren? Ist oft nicht ein Mund mit rosigen aufgeworfenen Lippen reizender, als jener schmalgespaltene, ernste, wehmüthige – manchmal, trotz der schmalen Lippen, ausdruckslose? – Der deutschen Frauen unwiderstehlicher Reiz aber besteht nicht allein in jenen verschiedenen Abschweifungen von den Schönheitsformen, die als normal angenommen sind, er besteht – und zwar hauptsächlich – in jenen Reizen der Seele und des Geistes, die man nur ahnt und fühlt und nennt, ohne sie expliciren zu können: ihre Zahl ist so reichhaltig, so unermeßlich, wie das deutsche Gemüth; sie heißen Anmuth, Bescheidenheit, Sanftmuth, Ergebung, Milde, Frohsinn. Hingebung, Huld, Innigkeit, Treue, Naivetät, Humor, Herzlichkeit, Unbefangenheit, und hundert andere mehr. Diese blühen. entzücken und fesseln, wenn die vergänglichen Reize der Form längst verwelkt sind. Das Absterben und Verwelken der Letzteren kann keine kosmetische Kunst, kein Zaubertrank, kein orientalischer Nektar aufhalten –; aber jene erhält sich die jungfräuliche, tugendhafte Seele für das ganze Erdenleben. Sie gehören der Psyche, [388] die sie, aus der Raupenhülle entfesselt, als Schmetterling wie ein unzerstörbares Erbe emporträgt.

–n.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 386-389.
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