Seelensitz

[321] Seelensitz: der Ort im Organismus, von dem aus man sich die Seele (s. d.) wirksam dachte oder denkt. Die moderne Psychologie versteht unter Seelensitz in der Regel nichts als das physiologische Correlat zum Psychischen, den Organismus als Einheit, centralisiert im Nervensystem, insbesondere im Großhirn (c. Localisation).

Im Blute hat die Seele ihren Sitz nach den Hebräern (vgl. über den Kopf als Seelensitz: Daniel 2, 28. 4, 2). Das Hirn als Seelensitz sollen schon die [321] Ägypter betrachtet haben, vielleicht aber das Herz. Der Pythagoreer ALKMAEON verlegt den Seelensitz in das Gehirn (Theophr., De sens. 25 squ.. Plut., Plac. IV, 16 squ.). 130 auch HIPPOKRATES (nach einer andern Stelle in das Herz). Nach KRITTAS hat die Seele ihren Sitz im Blute (Arist., De an. I 2, 405 b 6 squ.). PLATO verlegt den nous in das Haupt, den thymos in die Brust, das epithymêtikon in den Unterleib (Tim. 73 D, 90 A, 77 B. Rep. 435 B). Nach ARISTOTELES ist der Sitz der empfindenden Seele das Herz (De part. an. II, 10. 136 generat. II, 6. De somn.. vgl De somn. 3. De sens. 2. De mot. an. 10). Die Stoiker verlegen das hêgemonikon (s. d.) in das Herz (Diog. L. VII, 169). So auch nach POSIDONIUS. HEROPHILUS hat das Hirn als Sitz des hêgemonikon bestimmt (Tertull., De an. 15). So auch GALENUS Auch die Epikureer setzen den vernünftigen Seelenteil in das Herz (Diog. L. X, 66. Plut., Plac. IV, 5. vgl. LUCREZ, De rer. nat. III, 136 squ.). Nach PLOTIN ist die Seele im ganzen Leibe (Enn. IV, 8, 8). das Gehirn ist der Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit (l. c. IV, 3, 23). Ähnlich NEMESIUS, GREGOR VON NYSSA (De creât. hom. 12), AUGUSTINUS (Ep. 166). das Hirn ist Centrum der Empfindung und willkürlichen Bewegung (De gen. ad litt. VII, 17 squ.). Nach THOMAS u.a. ist die Seele »in toto corpore tota et in singulis simul corporis partibus tota« (Sum. th. I, 76, 8. vgl. I, qu. 4).

Nach CASMANN ist das Gehirn das »sensorium commune« der äußeren Sinne und Organ der innern Sinne (Psychol. II, 603 ff.). Nach J. B. VAN HELMONT hat die Seele ihren Sitz im Magen. Das Gehirn ist ein Werkzeug für das Vorstellen, die Willensbewegungen u.s.w. (Sedes anim. p. 282 ff. ). Nach DESCARTES ist der eigentliche Sitz der Seele die Zirbeldrüße des Gehirns. »Concipiamus igitur hic, animam habere suam sedem principalem in glandula, quae est in medio cerebri, unde radios emittit per reliquum corpus, opera spirituum, nervorum et ipsiusmet sanguinis, qui particeps impressionum spirituum eos deferre potest per arteria ad omaia membra« (Pass. an. I, 30 squ., 34. Princ. philos. IV, § 189. De hom. I, § 1. Ep. 29. vgl. Lebensgeister. vgl. GASSENDI, Obi. V, 6). Nach LEIBNIZ ist der Ort der Seele ein bloßer Punkt (Erdm. p. 749a. vgl. p. 274a, 457a). Nach BONNET ist der Seelensitz im »Balken« des Gehirns, nach DIGBY im Septum, nach HALLER in der Varolsbrücke, nach BOERHAVE im verlängerten Mark, nach PLATNER in den Vierhügeln. Nach SÖMMERING hat die Seele ihren Sitz in der Flüssigkeit der Hirnhöhlen. SWEDENBORG bezeichnet zuerst (1745) die Rindensubstanz als das physiologische Correlat des Bewußtseins. Nach G. E. SCHULZE besteht nur eine »dynamische Gegenwart« der Seele im Leibe (Psych. Anthrop. S. 48).

Nach J. MÜLLER ist die Seele im ganzen Leibe verbreitet (Physiol. II, 507). Ähnlich C. G. CARUS, STEFFENS, BURDACH (Anthr. § 225), LINDEMANN, HEGEL (Naturph. S. 432), K. ROSENKRANZ, ERDMANN, MEHRING u. a Ähnlich wie KANT (WW. VII, 118. 122) erklärt ESCHENMAYER: »Wir können eigentlich nur nach dem geometrischen Ort fragen, in welchem alle Gehirntätigkeit zusammenfließt, und in welchem die geistigen Äußerungen zunächst rege werden. Denn an sich hat die Seele keinen Sitz, sie ist überall und zu jeder Zeit« (Psychol. S. 213). Nach HILLEBRAND hat die Seele keinen »Sitz« im Leibe (Philos. d. Geist. I, 111). Sie ist überall im Leibe gegenwärtig (l. c. S. 112), ist in realer Einheit mit ihm (l. e S. 113). Nach J. H. FICHTE ist der ganze Leib Organ der Seele (Anthr. S. 268, 286), im engeren Sinne das Nervensystem (l. c. S. 294 ff.), ähnlich ULRICI (Leib u. Seele S. 133). Nach[322] HEBART hat die Seele keinen festen Sitz, sondern ihr Sitz verschiebt sich innerhalb der Varolsbrücke (Psychol. als Wiss. II, § 154. Lehrb. zur Psychol. § 163). Ähnlich VOLKMANN u.a., auch LOTZE, der den »Balken« als eigentlichen Ausgangspunkt der Seelenwirkungen bezeichnet (Grdz. der Psychol. § 63 ff`). Der Seelensitz ist ein homogenes Parenchym (Mikrok. I2, 335. vgl. Med. Psychol. S. 130). »Ein immaterielles Wesen kann im Raume keine Ausdehnung, wohl aber einen Ort haben, und wir definieren diesen als den Punkt, bis zu welchem alle Einwirkungen von außen sich fortpflanzen müssen, um Eindruck auf dies Wesen zu machen, und von welchem aus dies Wesen ganz allein unmittelbare Wirkungen auf seine Umgebung ausübt« (Gr. d. Psychol. S. 65 f.). Der Seelensitz ist nicht fest (l. c. S. 67 f.). Nach FECHNER ist im weiteren Sinne der ganze Leib beseelt (Elem. d. Psychophys. II, 384, 390, 426). Nach GUTBERLET ist die Seele »im ganzen Körper und in jedem Teile desselben gegenwärtig« (Kampf um d. Seele, S. 261). Nach RENAN ist die Seele da, wo sie wirkt (Philos. Dial. S. 137). Nach A. FOUILLÉE ist Seelenleben im ganzen Organismus (Psychol. des idées-forces II, 338). So auch nach WUNDT u.a. Vgl. Localisation, Apperception (WUNDT).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 321-323.
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