Lessing, Gotthold Ephraim

[405] Lessing, Gotthold Ephraim, 1729-1781, kommt in mancherlei Hinsicht auch für die Geschichte der Philosophie in Betracht. In Leipzig wurde er mit der Wolffschen Philosophie bekannt, später studierte er u. a. Spinoza und Leibniz. Von den Aufklärern und Popularphilosophen seiner Zeit war es besonders Mendelssohn, mit dem er verkehrte.

L. ist insofern ein Vertreter der deutschen Aufklärung, als er mit großem Freimut sich auf den Standpunkt der Vernunft stellt, nichts ohne Kritik hinnimmt und auch in der Theologie den religiös-ethischen Gehalt des Christentums vom Historisch-Dogmatischen wohl zu unterscheiden weiß. In seinen philosophischen Anschauungen ist L. nicht, wie Jacobi meinte (und Mendelssohn heftig bestritt), »Spinozist«, wenn er auch in mancher Beziehung (Einheit des Alls, Determinismus, Toleranz u. a.) von Spinoza beeinflußt ist. In erster Linie steht L. auf dem Boden der Leibnizschen Weltanschauung, die er zu einer Art Panentheismus weiterbildet.

L. ist ein entschiedener Vertreter des Individualismus (Pluralismus), und zwar einer Monadologie, also »Panpsychist«: »Jedes Stäubchen der Materie kann einer Seele zu einem Sinn dienen. Das ist, die ganze materielle Welt ist bis in ihre kleinsten Teile beseelt« (in der Abhandlung: »Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können«). Die Vielheit der Dinge aber wird von der Einheit Gottes umspannt, indem alles Seiende in Gott existiert (Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott). Ausdehnung und Bewegung einerseits und Gedanke anderseits sind »in einer höheren Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist«. »Sie muß unendlich vortrefflicher sein als diese oder jene Wirkung; und so kann es auch eine Art des Genusses für sie geben, der nicht allein alle Begriffe übersteigt, sondern völlig außer dem Begriffe liegt« (Gespräch mit Jacobi). Im »Christentum der Vernunft« entwickelt L. seinen christlichen Panentheismus weiter. Gott, das vollkommenste Wesen, hat sich von Ewigkeit her nur mit der Betrachtung des Vollkommensten, also mit sich selbst beschäftigen können. Was Gott vorstellt, das schafft er auch. Indem er sich in aller seiner Vollkommenheit dachte, schuf er sich damit ein ebenso vollkommenes Wesen, den »Sohn Gott«, welcher Gott selbst oder ein »identisches Bild« Gottes ist. Die Harmonie, welche zwischen beiden ist, ist der h. Geist. Indem[405] ferner Gott seine Vollkommenheiten zerteilt dachte, schuf er Wesen, deren Inbegriff die Welt ist. In der Welt ist nirgends ein Sprung, eine stetige Stufenfolge von »einfachen Wesen« existiert. Da jedes von diesen Wesen etwas hat, was die anderen nicht haben, so besteht zwischen ihnen eine Harmonie. Diese Wesen (Monaden) sind »gleichsam eingeschränkte Götter« mit verschiedenen Graden des Bewußtseins. Jene Wesen, welche sich ihrer Vollkommenheiten bewußt sind, sind moralische Wesen und folgen einem »aus ihrer eigenen Natur entnommenen« Sittengesetze: »Handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemäß«. Die beste positive Religion ist die, welche die wenigsten konventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält. Ob Christus mehr als Mensch gewesen, ist ein Problem. »Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein; das ist ausgemacht.« Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge. Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion, sie enthält mehr als diese und ist insofern nicht unfehlbar. Aus ihrer »inneren Wahrheit.« müssen die Überlieferungen erklärt werden. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten.

Seine (von Augustinus beeinflußte) Geschichtsphilosophie gibt L. besonders in der »Erziehung des Menschengeschlechts«; die Gespräche »Ernst und Falk« enthalten den Gedanken, daß der Staat dem Wohle der Individuen dienen soll, daß nicht die Individuen für den Staat da sind. Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung beim ganzen Menschengeschlechte, nämlich fortwährende Erziehung des Menschengeschlechts, die ihm nichts gibt, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte, nur daß sie es ihm früher gibt. Eine gewisse Stufenfolge weist diese göttliche Leitung des Menschengeschlechts auf, die von Polytheismus und niederster Moral zu höheren Formen der Religion und Sittlichkeit führt. Der Monotheismus des Judentums ward vom Christentum abgelöst. Die Zeit der Vollendung aber wird erst kommen, wo der Mensch »das Gute tun wird, weil es das Gute ist«, die Zeit eines »neuen ewigen Evangeliums«, das dritte Zeitalter. Eben die Bahn aber, auf welcher das Menschengeschlecht zur Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch erst durchlaufen haben. Es ist möglich, daß jeder Mensch mehrmals auf der Welt gewesen ist. »Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin.« Eine Erinnerung an frühere Zustände ist nicht nötig.

L.s Bedeutung als Ästhetiker ist groß, doch weniger in philosophischer Hinsicht. Hier sei angeführt, daß L. unter dem Schönen die »undeutliche Vorstellung einer Vollkommenheit, in welcher der Begriff der Einheit der klarste ist«, versteht (Bemerkungen über Burkes philos. Untersuchungen, 1758), ferner die Forderung, daß ein Kunstwerk ein »untadelhaftes Ganzes« bilde, daß die Dichtkunst moralisch nütze und zugleich ergötze. Die Bedeutung des Genies, des »Mustergeistes«, dessen glücklicher Geschmack der Geschmack der Welt ist, wird betont. Die tragische »Katharsis« faßt L. als Umwandlung der Affekte in »tugendhafte Fertigkeiten« auf.

SCHRIFTEN: Das Christentum der Vernunft, 1753. – Pope ein Metaphysiker (mit[406] Mendelssohn), 1755. – Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott, 1763. – Hamburgische Dramaturgie, 1767-69. – Ernst und Falk, 1778-80. – Die Religion Christi – Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780. – Gespräch mit Jacobi über Spinoza, 1785, u. a. – Auch gab L. die »Fragmente eines Ungenannten« (Reimarus) heraus. – Vgl. die Hempelsche Ausgabe der Werke L.s; ferner: E. SCHMIDT, L., 2. A. 1900. – DILTHEY, in: Das Erlebnis u. die Dichtung, 2. A. 1907. – WITTE, L. u. Herder 1880. – SCHREMPF, L., 1906 (Klassiker der Philos). – P. LORENTZ, L.s Philosophie, 1909 (Philos. Bibl.).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 405-407.
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