Lessing [1]

[750] Lessing, Gotthold Ephraim, einer der größten u. einflußreichsten Schriftsteller der neuern Zeit, als Dichter eine glänzende Ausnahme von der Regel, daß der Dichter geboren sein muß, geb. am 22. Jan. 1729 zu Kamenz in der Lausitz, Sohn des strenggläubigen Predigers daselbst, gewann seit 1741 auf der Fürstenschule zu Meißentüchtige, namentlich sprachliche Kenntnisse, sollte seit 1746 in Leipzig Theologie studieren, trieb aber lieber philosoph. u. ästhetische Studien. dichtete u. pflegte des Umganges mit den Schauspielern der Neuberschen Truppe sowie mit dem verrufenen Mylius, bis ihn der bekümmerte Vater durch die erdichtete Nachricht vom Tod der Mutter aus Leipzig herausbrachte. L. zog in das freigeisterische Berlin, wurde auf die Bitten des Vaters 1751 Magister in Wittenberg, kehrte jedoch 1753 abermals nach Berlin zu Ramler, Mendelssohn, Nikolai u.a. zurück, begann mit letztern die Bibliothek der schönen Wissenschaften, die Literaturbriefe, dichtete seine Fabeln, den Philotas, führte aber nicht immer ein angenehmes Leben, namentlich auch deßhalb, weil er [750] mit Geld nicht umzugehen verstand. Er wurde 1760 Akademiker, ging aber plötzlich nach Breslau als Gouvernementssekretär des Generals Tauenzien und bewies, wie wenig vornehme Gesellschaft ihn zu blasiren u. das Hazardspiel von Höherem abzuziehen vermöge, indem er hier seine Minna von Barnhelm dichtete und den Laokoon ausarbeitete. Letzterer erschien 1766 zu Berlin, wohin L. das Jahr vorher zurückgekehrt war. Der 7jährige Krieg hatte Hamburg zum Sitz der deutschen Schauspielkunst gemacht, L. wurde 1767 dahin gerufen, um das Stadttheater zu leiten und für dasselbe zu dichten; er verstand sich nur dazu, die Schauspieler kritisierend zu belehren und gab die Dramaturgie heraus, aber man wußte ihm solche heikle Stellung bald zu entleiden u. mit Freuden nahm er deßhalb 1769 die Stelle eines Bibliothekars zu Wolfenbüttel, »mehr um die Bibliothek zu benützen als daß diese ihn benütze« an. Er gab Beiträge zur Geschichte der Literatur, dabei aber auch die »Fragmente eines Ungenannten« (Herm. Samuel Reimarus, Professor in Hamburg) heraus, welch letztere ihn mit den orthodoxen Theologen, vor allem mit seinem früheren Freund Pastor Götze (s. d.) seit 1774 in heftige Streitigkeiten verwickelten, L.s unübertrefflichem Antigötzen sowie Nathan dem Weisen das Dasein gaben, ihm jedoch die Censurfreiheit nahmen. Er sah noch Wien und Italien, genoß das Glück der Ehe 1 Jahr. schrieb die Erziehung des Menschengeschlechtes und st. am 15. Febr. 1781 zu Braunschweig. L., fast in jeder Hinsicht der Gegensatz und die Ergänzung Klopstocks, stand einsam in seiner Zeit da, verband mit einer eminenten Vielseitigkeit und Gründlichkeit des Wissens ein schaffendes Genie und wirkte fast in allen Gebieten der Wissenschaft u. Kunst anregend auf die Nachwelt ein. Seine unerreichbare Kritik ätzte die Auswüchse und Vorurtheile der literarischen Vergangenheit weg, griff gelehrten Dünkel und Pedanterie mit dem feinsten Witze an u. dies mit einer Meisterschaft körnigen, gedrungenen und doch stets sonnenklaren Stiles. wovon das Kauderwälsch der schärfsten heutigen Kritiker aus Hegels Schule kaum eine Spur zeigt. Was dicke Bücher im Gebiete der Theologie, Philosophie, historischen u. philosophischen Kritik anstrebten, erreichte L. durch kurze Aufsätze; in der Kunst wirkte er epochemachend, indem er durch seinen Laokoon (1766), die Dramaturgie (1767. 1768), antiquarischen Briefe (1768) u. eine Menge einzelner Aufsätze vielseitiger als Winkelmann das Verständniß der alten Kunst und des Schönen überhaupt anbahnte, in der dramatischen Dichtkunst den Einfluß der französ. Classiker verdrängte, auf die Alten und die Engländer, namentlich auf Shakespeare, in allem auf die Natur hinwies und durch eigene Schöpfungen mit Beispiel voranging. Was ein schöpferisches Genie auch ohne eigentliche Dichteranlage vermag, zeigte der gewaltige Unterschied zwischen L.s frühesten Theaterstücken (der junge Gelehrte, der Mysogin, die Juden, der Freigeist, der Schatz) und den spätern: durch Miß Sara Sampson, an welchem Stück der engl. Einfluß nicht zu verkennen ist, führte er 1755 das bürgerliche und im Gewand der Prosa auftretende Trauerspiel in die deutsche Literatur ein; die weit vorzüglichere Minna von Barnhelm (er arbeitete daran 1763–67) ist ein treffliches Lustspiel voll origineller, geistreicher u. lebendig gezeichneter Charaktere und bis heute unser einziges nationales Volksdrama, dem eine Fluth von Soldatenstücken untergeordneter Geister folgte; die Emilia Galotti (1772), ein wahrhaft classisches bürgerliches Trauerspiel, wurde, hinsichtlich der Schilderung des verderbten Hoflebens wohl allzu einseitig, zunächst von Schiller nachgeahmt. Weniger als Emilia Galotti befriediget Nathan der Weise (1779), eine zu einem polemisch-didactischen Drama verarbeitete Erzählung des Decamerone (s. Boccaccio). Könnte man nämlich mit dem Grundgedanken: keine positive Religion habe Anspruch auf absolute Wahrheit, auch als Indifferentist in religiös-kirchlichen Fragen einverstanden sein, so läßt sich doch nimmermehr leugnen, daß die Feindseligkeit des Dichters gegen die [751] positive Religion allzu unkünstlerisch grell hervorspringt, die Anlage des ganzen Stückes dunkel und sein archimedischer Punkt: die Parabel von den 3 Ringen, mit der sehr verwickelten Intrike oberflächlich verschlungen ist. Daß L. durch seinen Mangel an positiver Religion ebenfalls als Vertreter der Neuzeit dasteht, möchte überhaupt sein geringstes Verdienst sein. Unter seinen Gedichten (Kleinigkeiten 1751) sind manche (Gestern Brüder könnt ihrs glauben) nicht übel, in der Fabel (s. d.) wirkte L. gleichfalls epochemachend, als Epigrammatiker steht er den Verfassern der Xenien im Ganzen nach. Beste Ausgabe sämmtlicher Werke von Lachmann, Berl. 1838–40, 13 B., neueste in der Leipziger Ausgabe von deutschen Classikern (1853 ff.); Lebensbeschreibung von L.s Bruder Karl Gotthelf (geb. 1740. gest. 1812 als Münzdirector zu Breslau, Verfasser von Lustspielen und Herausgeber des Nachlasses seines großen Bruders), von Danzel u. Guhrauer (Leipzig 1850–54).

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1855, Band 3, S. 750-752.
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