Wien

[714] Wien (lat. Vienna. Vindobona), Hauptstadt der österr. Monarchie u. des Erzherzogthums Oesterreich, die größte, schönste und reichste Stadt Deutschlands, Residenz des Kaisers, Sitz der Centralbehörden des Reichs und des Erzherzogthums sowie eines Fürsterzbischofs, liegt unter 48°12'32'' nördl. Breite, 34°2'16'' östl. Länge, 522' über dem Meere, an dem Einflusse der Wien in die Donau, in einer sehr schönen und fruchtbaren Gegend, hat mit seinen 34 Vorstädten 3 etc. deutsche Ml. im Umfange und zählt ohne die zahlreiche Garnison 432000 E. Die eigentliche Stadt (Altstadt) nimmt kaum den 10. Theil des Ganzen ein, ist mit Wall und Graben umgeben, von den Vorstädten durch das Glacis od. die Esplanade getrennt, einen 160 bis 2500 Klafter breiten Raum, der nach allen Richtungen mit Straßen und theilweise mit Asphalt gepflasterten Fußwegen durchschnitten u. mit vielfachen Reihen von Platanen, Linden, Kastanien etc. bepflanzt ist; nur der große freie Raum vor dem Franzensthore dient zum Exercier- u. Paradeplatze; das schönste Thor ist das Burgthor mit 12 mächtigen dorischen Säulen und 5 Durchgängen. Die Vorstädte sind mit einem 12' hohen Wall und einem Graben (Linie) umgeben, welche 1703 gegen die ungar. Insurgenten errichtet, jetzt als Barrière gegen den Schmuggel dienen. Die wichtigsten Vorstädte sind: die Leopoldstadt auf einer Donauinsel, an welche sich die Hauptvergnügungsorte der W.er, der Prater mit seinen Waldpartien, Alleen, Kasse-, Schenkhäusern etc., der 164000 Quadrat Klafter große Augarten mit der k. k. Rosenflur und Obsttreiberei, sowie die Brigittenau anschließen; die schöne Jägerzeit; die Weißgerbervorstadt; Erdberg; Landstraße u. Rennweg; Wieden; Mariahilf; Leimgrube; Josephstadt; Schottenfeld; Alservorstadt; Rossau. Die Häuser der inneren Stadt sind hoch gebaut, massiv, mit steinernen Treppen, [714] die Straßen herrlich gepflastert, aber die meisten wie bei alten Städten meist eng und winkelig; in den Vorstädten sind sie dagegen breiter und gerader, die Häuser niederer, freundlicher. Die innere Stadt hat 20 öffentliche Plätze (Burgplatz mit dem Monumente Franz II., Josephsplatz mit Josephs II. Reiterstatue, hohe Markt, Paradeplatz etc.). Unter den 50 Kirchen W.s ist der Dom von St. Stephan die ausgezeichnetste, eines der schönsten Denkmäler der goth. Baukunst, von 1344 bis 1579 erbaut, mit dem herrlichen 345' hohen Thurme; in vielfacher Hinsicht merkwürdig sind ferner: die Augustinerkirche mit dem Denkmale der Erzherzogin Christine von Canova, die Kapuzinerkirche mit der kaiserlichen Familiengruft; die Ruprechtskirche, die älteste; die Kirche Maria Stiegen, die Michaeliskirche, die neue von Müller aus St. Gallen gebaute Schottenkirche, die Peters-, die italienische, die Karlskirche etc. Außer der kaiserlichen Residenz, der Burg, deren Gebäude aus verschiedenen Zeiten herrühren, zählt man in W. 123 Paläste (Esterhazyscher, Schwarzenbergischer, Liechtensteinischer, Czerninscher etc.). An Sammlungen aller Art ist W. außerordentlich reich; die kaiserliche Hofbibliothek enthält 350000 Bde., 20000 Manuskripte, 100000 Incunabeln, 200000 Kupferstiche; das kaiserl. Münz- u. Medaillenkabinet hat seines Gleichen nicht, das k. k. Antikenkabinet ist besonders reich an geschnittenen Steinen u. Vasen; das k. k. Schloß Belvedere auf der Südostseite der Stadt enthält die Ambraser Sammlung und eine reiche Gemäldegalerie; in den Palästen der Großen, namentlich in den oben angeführten, finden sich gleichfalls reiche Kunstsammlungen und Bibliotheken. Die Zahl der wissenschaftlichen Anstalten ist ungemein groß; die wichtigste ist die 1365 gestiftete Universität, die besonders in naturwissenschaftlicher und ärztlicher Hinsicht außerordentlich reich ausgestattet ist und eine medicinische Fakultät besitzt, welche unter allen vielleicht den ersten Rang einnimmt. Weitberühmt sind ferner die polytechnische Schule, die Ingenieurschule, die Akademie für orientalische Sprachen, das Conservatorium für Musik, die Akademie für bildende Künste. Außerdem hat W. mehre Gymnasien, 2 Oberrealschulen, eine Normalhauptschule, eine Thierarzneischule, eine Handelsschule, Blinden- u. Taubstummeninstitut, viele Privatanstalten. Von den vielen wohlthätigen Anstalten führen wir an: das Krankenhaus der barmherzigen Brüder in der Leopoldstadt mit 114 Betten; die Krankenanstalt bei den Elisabethinerinnen mit 50 Betten für weibliche Kranke; das Hospital der barmherzigen Schwestern für 700 Kranke; das von Joseph II. gestiftete allgemeine Krankenhaus mit 2000 Betten; das Garnisonspital mit 783 Betten; Krankenhäuser für arme Kinder, für Israeliten, 3 Versorgungshäuser, Findelhaus, Gebärhaus, Impfungsinstitut, Bürgerspitäler, Waisenhaus, Kleinkinderschulen, mehre Kinderbewahranstalten (crêches) W. ist der Mittelpunkt des Welthandels für die Monarchie; seine Lage an der Donau bedingt einen lebhaften Verkehr mit der Türkei und der Levante, der durch die Dampfschifffahrt auf der Donau sich gesteigert hat u. fähig ist, ungleich größere Dimensionen anzunehmen; ist W. vollends der Knotenpunkt des erst theilweise vollendeten Eisenbahnnetzes (dessen Stränge das adriatische Meer, die Ostsee, den Rhein, die Weichsel u. den Po erreichen sollen), so muß es der Hauptstapelplatz des europ. Continents werden, wozu es durch seine Lage alle Anwartschaft hat. Ebenso ist W. der Hauptsitz der österr. Industrie; diese liefert besonders Baumwollen- und Seidewaaren, alle Luxusartikel, berühmte Shawls, Fortepianos, Tischlerarbeiten, Wagen, optische Instrumente, Bleistifte. Für das öffentliche Vergnügen sorgen 5 Theater (Burg-, Kärnthnerthor-Theater, Theater an der Wien, Karls- und Josephstädter-Theater); musikalischen Genuß gibt es oft an öffentlichen Orten, in Gärten; Spaziergänge gewähren das Glacis, der Volksgarten, auf demselben der Prater, Augarten etc.; Ausflüge macht man nach den kaiserl. Lustschlössern Schönbrunn und Laxenburg, nach Mödling, Stockerau, Baden etc. (Vergl. Schmidt »W., die Kaiserstadt, u. ihre nächste Umgebung«, W. 1854). – Die Stadt W. [715] erwuchs aus einem röm. Standlager (Vindobona, im 5. Jahrh. Fabiana genannt, von welchem der Name W. abgeleitet ward), wurde nach mannigfaltigen schweren Schicksalen die Residenz der Markgrafen u. späteren österr. Herzoge, erlangte aber erst unter den Habsburgern seine große Bedeutung, die mit der Ausdehnung der Monarchie immer stieg. 1529 widerstand es den Stürmen Sultans Solyman des Großen, im 30 jährigen Kriege sah es böhm. und ungar. Insurgenten vor seinen Mauern, 1683 brach sich das letzte Anstürmen der Osmanen an W. u. seit dieser Zeit vergrößerten od. erhoben sich auch die Vorstädte. 1805 mußte es zum erstenmal Franzosen einquartieren, 1809 zum zweitenmal; 1814 bis 1815 war es der Sammelplatz der Fürsten und Staatsmänner Europas (s. Wiener Congreß); 1853 versuchten hier die gesandtschaftlichen Conferenzen vergebens den Ausbruch des oriental. Krieges zu verhindern, wie 1855 allen Großmächten annehmbare Friedensbedingungen aufzustellen. Eine seltsame Episode bildet in der Geschichte W.s das Revolutionsjahr 1848, in welchem sich ein Theil der Bevölkerung zu wiederholten Aufständen bethören ließ, durch welche nur den Feinden der Monarchie gedient wurde.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 714-716.
Lizenz:
Faksimiles:
714 | 715 | 716
Kategorien: