3. Das Epigramm

[156] Die echte Elegie, die Schöpfung der »gewandnachschleppenden Ionier«, scheint, wie gesagt, früh erloschen zu sein, was nicht hindert, daß möglicherweise Elegien noch lange massenhaft gedichtet wurden, und nun zog sich statt ihrer die Stimmung ins Kurze und wurde Epigramm oder, sofern sie sympotischen Charakter hatte, kurzes Skolion. Diesen elegischen Ursprung des Epigramms müssen wir uns gegenwärtig halten; dasselbe ist nicht etwa nur, was sein Name sagt, aus der Aufschrift eines Grabes, Anathems oder sonstigen Denkmals hervorgegangen. Aber freilich standen auch diese Aufschriften in ihrem ursprünglichen Charakter der Elegie ohnehin nicht ferne: abgesehen davon, daß sie in Distichen, also in einer hohen Form verfaßt waren, mußten auf solche mit bloß schön deutlicher Sachangabe andere folgen, da dem Gegenstand durch einen höhern Gedanken oder ein höheres Gefühl eine geistige Bedeutung gegeben wurde. Durch ihre kraftvolle Kürze und Schärfe schieden sie sich dann von der bequem redenden Elegie aus; dagegen bedurfte es jedenfalls bei den frühern Griechen noch nicht des Überraschenden, Unerwarteten, der sogenannten Spitze. Aus der wirklich gesetzten Inschrift wurde dann mit der Zeit eine von Stein und Erz unabhängige literarische Gattung; diese Ablösung vom Monument erfolgte schon notwendig, wenn neben einem bereits vorhandenen Epigramm einem Dichter ein neues einfiel, wie es denn gewiß schon neben den offiziellen Inschriften des Simonides zahlreiche anders gewendete auf die nämlichen Gräber und Ereignisse gab. Und nun entwickelte das Epigramm eine wahre Proteusnatur, indem es sich nach allen Seiten hin ausdehnte und außer dem Grab und dem Anathem der freien Äußerung über alles Mögliche, besonders aber der Liebe, der Spottsucht, der Freude des Symposions diente. Schon frühe war es ein freies Gefäß des griechischen Esprit, und wie sehr es als solches dem Geiste der Nation entsprach, erhellt schon daraus, daß es nahezu das zäheste Leben bewiesen hat, bis tief in die byzantinische Zeit hinein. Hat der ganze Orient ein einziges Epigramm hervorgebracht, das er diesem Reichtum gegenüberstellen könnte?

In Griechenland aber ist die Gattung alt. Ein treffliches Grabdistichon, sowie ein anathematisches und ein boshaftes sind schon von Archilochos überliefert315, und auch von Anakreon gab es deren eine Anzahl316. Berühmt aber als Epigrammendichter war erst Simonides von Keos317, der ältere Zeitgenosse des Pindar und des Äschylos, und gerade bei diesem,[156] der auch in der Elegie groß war und in dieser z.B. die Gefallenen von Marathon und von Platää gefeiert hat, zeigt sich der Zusammenhang beider Gattungen, indem viele seiner sogenannten Epigramme eher wie Fragmente von Elegien als wie Grabschriften erscheinen. Schon seine echten Epigramme aber repräsentieren alle spätern wesentlichen Schattierungen. Wegen seiner Grabschriften war er so angesehen, daß er bereits im Auftrage verschiedener Staaten die betreffenden Epigramme für ihre im Perserkrieg Gefallenen zu dichten bekam; von ihm ist bekanntlich die Thermopyleninschrift (92): »Melde, o Fremdling, den Lakedämoniern, daß wir hier liegen, weil wir ihren Satzungen gehorchten.« Wie hier, so zeigt sich auch anderwärts die anfängliche Kraft des Epigramms sehr vollständig318. Auch mehrere seiner Privatepitaphien sind innig und schön, wie das Distichon auf das Grab eines Gemordeten (128) und die Anrede des sterbenden Töchterchens, welches die Mutter bittet, dem Vater ein anderes Kind zu gebären (116). Daneben hat auch er schon verschiedene Unarten: Zwar einiges Prahlen wird nichts geschadet haben, wie wenn er (91) 4000 Peloponnesier gegen 300 Myriaden Perser kämpfen läßt. Dagegen ist nicht ganz glücklich die Neigung zur Antithese, wenn er z.B. den armen Gorgippos (124) sagen läßt: »Mensch, du siehst nicht des Krösos Grab, sondern das eines Geringen, mir aber genügt es319«. Auch läßt er wohl den Löwen auf einem Grabe selbst das Wort ergreifen (110) oder spricht in erster Person (112) oder entfaltet auch schon einen Luxus mit geographischem Wissen, indem er (117) einen Ertrunkenen auf seinem Kenotaph sagen läßt, besser wäre es gewesen, ferne den Istros und vom Skythenland aus den großen Tanais zu sehen, als so nahe bei der skironischen Flut zu wohnen usw. – Zum Teil trefflich und reich an Wendungen, gewiß auch Vorbild vieler spätern sind dann wieder seine Anathematika für uns, sofern sie an die hellenischen Siege erinnern, merkwürdige Gegenbilder zu Inschriften wie die von Bisitun. So hat die Weihinschrift (133)


»Mich bockfüßigen Pan, den arkadischen Feind der Barbaren,

Der den Athenern ich half, stellte Miltiades auf«


alle Vorzüge der Steigerung und bringt den Namen trefflich ans Ende320. Auch von der Apostrophe macht er häufig Gebrauch, teils an Dinge, welche angeredet werden, wie die in einen Zeustempel gestiftete alte[157] Eschenlanze (144), teils an Personen, zu denen die Dinge sprechen, wie an den Stiftenden (150), an Vorübergehende (149)321, an den Dichter selbst (145). Einige Distichen für Agonalsieger sagen nur möglichst gedrängt den Ort der Siege, die Kampfesart, den Namen und die Heimat des Siegers; andere, für Kunstwerke verfaßte enthalten Angaben von Künstlernamen, entweder ohne weitere Zutat oder auch mit Selbstruhm (162) oder gar mit der höchst prosaischen Nennung des dem Künstler gezahlten Honorars (157), einmal (165) gestattet er sich auch ein Wortspiel ohnegleichen322. Neben dem epitaphischen und anathematischen Epigramm ist aber bei Simonides auch der freie Scherz (παίγνιον) und der Spott schon vertreten; ja auf seinen Feind Timokreon gestattet er sich (169) schon eine parodistische Imitation der feierlichen Grabschrift323.

Nach diesem Blicke auf den vielseitigen Dichter erinnern wir nur im Vorübergehen an die Grabschrift mit Erinnerung an Marathon, die Äschylos für sich selbst verfaßte324, an das unübertreffliche Epigramm des Euripides, der den Helios anruft, ob er je schon so etwas gesehen, wie den Tod von Mutter und drei Kindern an einem Tage325, an die Epigramme Platos326, bei dem die Grabschrift auch schon zum bloßen schönen jeu d'esprit wird327 und Witze, Liebesepigramme und Wortspiele, auch zwei Naturbilder (24, 25) schon völlig den Stil der spätern Anthologie zeigen328, um uns nunmehr dem Hauptdepositum von Epigrammen, das wir besitzen, eben dieser Anthologie, zuzuwenden.

[158] Vor allem ist auch hier wieder von den Grabschriften zu sprechen. Die Beziehung zu den Toten war vielleicht bei den Griechen um soviel inniger, als man über das Jenseits unklar war329. Man wußte aber, daß man ihnen durch Grab und Stele (Grabsäule) etwas Liebes erwies, wovon sie einen Genuß hatten. Während nun uns auf der Grabschrift der Rückblick ins Leben wesentlich abgeschnitten ist, indem man sich für sich und die Toten vor auszeichnenden Worten, die leicht ruhmredig klingen, scheut, drängte es den Griechen, über den bloßen Namen und Gruß noch Weiteres330 zu sagen, und dies konnte nur poetisch, in der durch das prächtige Distichon bedingten hohen Form geschehen. Sehr schön war dabei, daß der Stand und der Reichtum, die sich in der Pracht der Gräber stark ergehen mochten, wenigstens in der vorrömischen und vorbyzantinischen Zeit gar nicht in Betracht kam. Der Stein kostete nicht viel, weil er keiner architektonischen Einfassung bedurfte, und so bekam auch die arme Arbeiterin ihr Gedicht, wenn sie ein Andenken hinterließ. Auch eines namhaften Dichters bedurfte es nicht, obwohl sich ein solcher gewiß oft gerne dazu verstand331 und damit einen im Stein dauernden Ruhm erlangen konnte, denn auch gewöhnliche Leute in Hellas konnten einen schönen Ausdruck für ihren Schmerz finden; was Behandlung und Metrum sei, wußte man darum, weil man von Homer her viel auswendig wußte.

Was nun die erhaltene Sammlung betrifft, so darf man sich den Genuß nicht durch die Frage verderben, ob die Epigramme wirklich auf Gräbern gestanden haben. Vieles mag von solchen kopiert sein, oft hat man es nur mit einem späten geistreichen Einfall zu tun; letzteres ist selbstverständlich bei den Epigrammen auf die alte Heroenwelt und meist auch bei denen auf die großen Krieger und die Dichter der Fall332. Für uns ist das Wichtige der Blick ins griechische Leben und in die ganze Denkweise der Griechen, der uns hier aufgetan wird. Ihr gutes Recht hat dabei vor allem die Anrufung an den Toten; ist sie bisweilen freilich[159] auch nur rhetorisch, so klingt sie in den bessern Epigrammen doch manchmal wie der letzte Schmerzensruf an den Erblichenen. Auch die Anrufung an das Grab, die Aufforderung an die Pflanzen und andere Gegenstände der Umgebung, es zu schmücken, oder an die betreffende Stadt und Gegend, es in Ehren zu halten, haben oft etwas sehr Inniges. Häufig redet der Tote den Leser an, oder er antwortet auf die Fragen des Wanderers. An Hyperbeln, Wortspielen, Antithesen fehlt es nicht; doch dürften an unsinnigen Übertreibungen besonders die Byzantiner kenntlich sein, die überhaupt von Reminiszenzen und Antithesen leben und bei denen uns, wenn Rhetoren und Bürokraten besungen werden, das Epigramm verleiden könnte. Bei den frühern Griechen sind es außer den bereits genannten Dichtern und Kriegern besonders Jäger, Hirten und Bauern, auch, wie gesagt, arme Leute, wie Fischer, Lohnarbeiter, Weberinnen usw., denen das Grabepigramm gilt; gerne beschäftigt es sich mit den im Meere Ertrunkenen, auch Witze auf tote Philosophen und Dichter und auf obskure Leute, deren Tod eine eigentümliche Ursache gehabt, kommen vor; dagegen fehlt in der guten Zeit ganz der eigentliche Philister; wo es nichts zu dichten gab, ließ man es bleiben. Tiergrabschriften, deren eine Anzahl überliefert sind, werden wirklich wohl hin und wieder gesetzt worden sein.

Bezeichnend ist nun besonders die Wahrheit und Offenheit, die aus den Grabschriften spricht. Neben dem ruhigen Blick auf das (noch leer stehende) eigene Grab kommt der Schmerz über den Tod der Angehörigen ungescheut zu Worte; man darf herzhaft über das Schicksal klagen und jammern und hat gegen das furchtbare Leiden keine Ergebenheitsmiene nötig. Andererseits geschieht auch das Glücklichpreisen solcher, denen es gut gegangen ist, höchst unbefangen, so daß man die Taxation des Lebens und seines Glückes ganz deutlich kennenlernt, und der genossenen Erdenlust wird gerne Erwähnung getan. Auch die Naivität darf sich auf voller Höhe zeigen. Es fällt z.B. dem Dichter eines von den Leuten des Ortes höchst wahrscheinlich wirklich gesetzten Epigrammes (444) gar nicht ein, die Trunkenheit zu verschweigen, welche an einem großen Brandunglücke schuld war; denn da noch keine Heuchelei existiert, sind die Opfer damit nicht bei der Nation kompromittiert. Ebenso wird die düstere Lebensauffassung nicht zurückgehalten. Wenn auch über Timon fast nur Witze gemacht werden, so wird die Klage über die Rätsel des Lebens und der Satz, daß Nichtsein besser wäre, laut ausgesprochen, und Selbstmörder bekommen recht (470 f.). Schon relativ früh schleicht sich dann auch für berühmte Menschen das Bild ein, wie sie sich unter den Seligen befinden und wen sie dort treffen mögen333, während[160] gewiß erst spät der Heidenhimmel auftaucht, da die Seele, des Leibes ledig, zu den himmlischen Pfaden emporschaut (337) oder im Himmel ihren Sitz suchen geht, allwo Orpheus und Plato sind (363). Dafür nimmt natürlich der Hades einen breiten Raum ein, ohne daß vom dortigen Wiedersehen viel die Rede wäre; nur Mutter und Kind denkt man sich auch hier gerne vereinigt (387, 464 f.). Er erscheint etwa als der Ort, wo Thersites und Minos gleichviel gelten, d.h. wo alles gleich ist (727), und der Zustand in ihm gilt nicht als unglücklich (667). Daneben kommt auch die Negation jeglichen Fortlebens im Hades vor (524).


Wie die ersonnene Grabschrift eine Variante der wirklich gesetzten ist, so lehnen sich an die Anathematika mit der Zeit die bewundernden, oft höchst zugespitzten Inschriften auf Kunstwerke, wie z.B. die vielen auf Myrons Kuh, auf die Aphrodite von Knidos334 usw.; man erhält also ein Epigramm über die Statue statt an derselben. Diese Gattung mußte sich aber notwendig bald erschöpfen; sie lebt später bei den Byzantinern in ziemlicher Fadheit weiter.

Unerschöpflich dagegen ist das Epigramm, sofern es sich an die Elegie anlehnt und erotischen, sympotischen, spöttischen Inhalt hat. Hier kommt seine natürliche Neigung zur Antithese zur Geltung, wozu schon die Form des Distichons einlädt; es kann die süßeste Lyrik enthalten, aber ebensogut und mit ganz besonderer Prägnanz durch die Paarung von Gegensätzen den Witz und Hohn ausdrücken, es kann schildern und stechen und hat so mit der Zeit neben seinen vielen andern Funktionen auch die des archilochischen Iambus übernommen. Die Komik war ihm durch die schöne, feierliche Form sehr erleichtert, welche jeden Augenblick an Homer und die Elegiker anklang, während der Inhalt den geraden Gegensatz dazu bilden mochte335, es hütete sich wohl, in lauter Skazonten und ähnlichen Metren einherzugehen. Ferner stand ihm die von der Komödie her gewohnte freie Wortbildung und dgl. zur Verfügung; mit Beziehung auf die alte Gattin des Priamos und das sprichwörtliche Alter der Krähen konnte man z.B. die gealterte Laïs »Krähenhekabe« (Κορωνεκάβη) nennen. Und dann gewährte die lange Gewöhnung, den Mythus für alles und so auch für alle mögliche Komik zu[161] zitieren, ein stets bereites großes Reich von Bildern, nicht bloß von abstrakten Vorstellungen, ein allverständliches Medium, wie keine seitherige Poesie ein solches gehabt hat336. Zu den direkten Mitteln dieses Witzes gehörte zunächst die Hyperbel bis ins Enorme hinein. Das Epigramm läßt z.B. die Leute schon sterben, wenn der Arzt nur das Haus betritt, oder die Dämonen nicht vor den Beschwörungen des Exorzisten, sondern schon vor dessen unangenehmem Geruch fliehen337. Selbstverständlich spielt auch das Wortspiel – freilich bisweilen bis ins Frostige – eine große Rolle. Gerne kleidet sich der Spott in die scheinbare Verteidigung: »Man sagt, du habest deine Haare gefärbt, o Nikylla, während du sie doch rabenschwarz gekauft hast338.« Auch ganze Stände werden gerne gefoppt, zumal die Ärzte, indem z.B. die Sargmacher aufgefordert werden, sie mit Bändern und Kränzen zu bewerfen; aber auch die Philosophen werden mit ihren kleinen Interjektionen und andern Zwischenwörtern aus Plato aufgezogen339. Daß es Charakteren wie dem Geizigen, dem Schwätzer usw. nicht besser geht, ist natürlich.

Neben diesem Epigramm, von dem wir nicht wissen, wie oft es zur direkten anonymen Invektive gegen Personen gedient haben mag, steht dann, gleichfalls aus der Elegie abzuleiten, das zum Teil völlig gnomische Epigramm der ruhigen Weltbetrachtung. Eine Menge von Urteilen über Leben, Schicksal und Sittlichkeit wird so ausgesprochen, bisweilen abstrakt, oft auch mit Anlehnung an irgendeinen Namen. Oft sind diese Epigramme wohl nur als möglichst schöner und prägnanter Ausdruck des Längsterkannten, auch philosophischer Gedanken, entstanden und stellen eine Art von Spruchweisheit dar. Treffliches bietet so namentlich Lukian in Sätzen wie (6):


»Nimmer ist Eros der Frevler am Menschengeschlechte; die wilden

Triebe des Menschengeschlechts stecken sich hinter den Gott.«


Er kann sogar ganz religiös sein, wenn ihm zu trauen wäre (9):


»Mag unziemliches Handeln den Menschen entgehen; den Göttern

Schon im Gedanken daran sicher entziehst du dich nicht.«[162]


Im Grunde aber gehören diese und überhaupt alle Epigramme, die nicht für ein bestimmtes Grab oder Anathem gedichtet sind, zur epideiktischen Gattung. Diese umfaßt lange nicht bloß diejenigen Stücke, welche in der Anthologie als Epideiktika gesammelt sind, sondern überhaupt alles, was zur Probe (ἐπίδειξις) dessen, was man kann, nicht um eines vorgeschriebenen Inhalts willen, geschaffen ist. Sie ist ja nicht a priori deshalb zu verwerfen, weil einige unnütze sogenannte Prunkreden epideiktisch heißen; in der eigentlichen Kunst und in der Poesie ist sie jedenfalls noch mehr als in der Redekunst am Platze. Dort nämlich nimmt sie von dem Augenblicke an eine sehr hohe Stellung ein, da die Kunst (neben dem, was sie dem Kultus, der Polis und dem erregten Moment weiter leistet) sich dem Privatbegehr zur Verfügung stellt, und es können unter dem Epideiktischen die schönsten freien Spiele der Phantasie, die Kunden der lieblichsten Anschauung und die geistvollsten Gedanken sein. Andere Völker, welche diese zwecklose Schönheit nicht hervorzubringen imstande sind, mögen dergleichen so hart und falsch beurteilen, als ihnen beliebt.

Epideiktisch ist also zunächst im Epigramm der eigentliche Sinnspruch, d.h. irgend ein ins Kürzeste und Schönste gezogener Satz aus Moral, Leben, Beobachtung, der etwa auch in paränetischer Form, als Anrede des Dichters an sich und andere gefaßt ist, wie wenn z.B. der nämliche Lukian (15) einem andern die Unbeständigkeit seines Glückes weissagt. Sodann kleine Genrebilder und kurz hingeworfene Anekdoten aller Art, die einen lehrhaften Zug haben und sich oft geradezu als Parabeln geben: Der Blinde trägt den Lahmen, der ihm den Weg sagt (Epid. 11 ff.), der Agonalsieger wird in seinen alten Tagen Mühlsklave (19 f.), Diogenes verhöhnt Krösos im Hades mit seinem größern Reichtum (145). Auch Naturbilder aus dem Pflanzenreich und Tierreich mit einer oft nur ganz leisen ethischen Anwendung und Grundanschauung: Die wilde Birne (78) verteidigt ihre Ungenießbarkeit mit dem Satze: Was wir (Pflanzen) zur Reife bringen, das holt ein anderer, was aber unreif bleibt, das hängt für die Mutter (Natur) da. Die vom Winde umgerissene Fichte warnt, da man sie zum Schiffsbau brauchen will (105). Der Ölbaum ruft den herandrängenden Rebzweigen zu, sie sollten ihre Trauben wegnehmen; als jungfräulicher Baumwolle er vom Weine nichts wissen (παρϑένος οὐ μεϑύω) (130). Außerordentlich zierlich ist der Gegensatz von Bock und Rebe (75) gegeben; diese sagt zu jenem: Und wenn du mich bis zur Wurzel abfrissest, so viel Frucht werde ich noch immer tragen, als zur Spende genügt, wenn man dich einmal opfert340. Besonders gerne werden kleine Ereignisse aus der Tierwelt pikant beschrieben: Eine Maus will[163] eine offene Auster fressen, worauf diese zuklappt; eine Schwalbe bringt ihren Jungen eine Grille, die Kollegin im Gesange, zum Futter (122); die über ihren Küchlein erfroren gefundene Henne veranlaßt den Dichter zur Nutzanwendung, Prokne und Medea sollten sich im Hades schämen (95). – Auch das Leblose dient zur konkreten Darstellung allgemeiner Wahrheiten: Ein Landstück spricht bei Lukian (13): »Einst gehörte ich einem Achämeniden, jetzt dem Menippos und bald gehe ich von einem andern wieder an einen andern über. Jener meinte, er besitze mich, und nun meint es dieser; ich gehöre aber überhaupt keinem, sondern nur der Tyche.« Der Nachen vergleicht sich dem größern Schiffe und sagt überaus fein: »Eines verläßt sich auf dieses, das andere auf jenes. Ich möge unter der Hut der Götter sein« (Epid. 107). Auch Anreden an irgendwelche Naturgegenstände gehören zu diesen vignettenartigen Bildchen. So wird die Schwalbe (Prokne) wegen ihres Klagegesanges befragt, ob sie ihrer Jungfrauschaft gedenke, die Tereus ihr mit Gewalt geraubt (57 und 70), und sehr schön wird (71) das hohe, dichten Schatten gewährende Astwerk der Eiche um Schutz bei der Tageshitze gebeten. Stimmungsvolle landschaftliche Bilder sind das von dem Heiligtum und Xoanon der Aphrodite mit Aussicht auf das Meer, das sich vor der Göttin fürchtet und den Schiffern glückliche Fahrt gewährt (144), und diejenigen, in denen die Verlassenheit des von Ziegen beweideten Mykenä mit Wehmut beklagt wird (101 ff.).

Zur epideiktischen Gattung gehört aber auch sonst noch alles mögliche. Beispielsweise nennen wir hier AufzählungenA12 mit schließlicher Nennung eines Herrlichsten, wenn es z.B. (58) heißt: Ich habe alle sieben Weltwunder gesehen (welche einzeln aufgeführt werden); aber als ich den bis in die Wolken gehenden Tempel der Artemis (zu Ephesos) sah, da ward alles verdunkelt. Mit Aufzählungen werden etwa auch Komplimente an Mächtige sinnreich herbeigeführt. Vier Gottheiten, welche, von schwebenden Niken emporgetragen, in einem Prachtsaale gemalt sind, sollen einem solchen allen möglichen Segen bringen (59). Auch Apophthegmen werden gerne in dieser Form erzählt, wie das Wort, das eine Spartanerin dem fliehend heimkehrenden Sohne sagt, indem sie ihn tötet (61), und der letzte Rat des Antigenes von Gela an seine Tochter, von der Spindel mit Ehren zu leben und bei einer Heirat die Sitten ihrer achäischen Mutter zu bewahren (96). Zahlreich sind spitzfindige Antithesen in sachlichen Bildern; eine der schönsten Antithesen ist die des Euenos (62), welcher Ilion sagen läßt: »Asche der Zeiten hat mich verzehrt, aber in Homer bin ich noch vorhanden und habe meine ehernen Pforten noch.« Überhaupt wird vieles zum Ruhm Homers und[164] anderer Dichter gesagt. Neben kurzen, eigentlich anathematischen Dedikationen kommt hier die Prosopopöie vor: Ein bewundertes Gedicht, die Lyde des Antimachos341, spricht in einem Epigramm des Asklepiades in erster Person von seiner Trefflichkeit und seinem Ruhm. Auch Exklamationen des Lesenden finden sich und Mythologisierungen, indem z.B. Mnemosyne (66) beim Anhören der Sappho fürchtet, die Menschen möchten eine zehnte Muse bekommen. – Endlich gehören dem epideiktischen Genre noch die Rätselepigramme an, welche nicht in Frageform gefaßt zu sein pflegen, sondern Dinge beschreiben oder hinsagen, deren wirklichen Namen oder Bedeutung man erraten muß.

Zum Schlusse bemerken wir, daß auch im Epigramm der agonale Trieb der Nation bemerklich ist. Werke eines nachträglichen Agons sind die zahlreichen Epigramme auf einen und denselben Gegenstand.[165]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CLVI156-CLXVI166.
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