Zum Feldzug i. J. 16.

[123] Um unsere Auffassung von dem Wert und dem Charakter der Tacitusschen Annalen als historische Quelle weiter zu begründen, wollen wir noch einige Einzelheiten seiner Erzählung des Feldzuges vom Jahre 16 prüfen.

Unmittelbar nachdem die Landung vollführt ist, wird uns erzählt, daß die Angrivarier im Rücken der Römer abgefallen seien, und Stertinius wird mit Truppen zwecks ihrer Bestrafung detachiert. In dem darauffolgenden Gefecht an der Weser, ebenso wie in der gleich sich daran anschließenden Schlacht von Idisiaviso ist jedoch Stertinius auch dabei, und zum Schlüsse des Feldzuges wird er abermals gegen die Angrivarier abgeschickt und nimmt ihre Unterwerfung in Empfang. Äußerlich unmöglich ist diese Reihenfolge nicht, wenn auch im höchsten Grade auffallend, daß Stertinius zum Gros zurückkehrt, ehe er die Empörung im Rücken des Heeres gedämpft hat; jedenfalls aber hat der Historiker in dem Zusammenhang, wenn er überhaupt richtig ist, eine große Lücke gelassen.

Es folgt das Gespräch zwischen Arminius und Flavus über die Weser hinüber. Man hat schon einen anderen Fluß geglaubt annehmen zu sollen, da für eine derartige Unterhaltung der Weserstrom etwas breit sei. In Wirklichkeit dürfte die Wechselrede der cheruskischen Brüder eine poetische Fiktion sein, die, nebenbei bemerkt, vielleicht die Schuld an der Verlegung der Expedition an die Ems trägt. Tacitus mag in seiner Quelle den Namen des Flusses, in den Germanicus einfuhr, nicht gefunden haben; da nun aber ausdrücklich weiter gesagt war, daß man über den Fluß, also auf die feindliche Seite, gegangen sei, und nun erst das Gespräch der Cheruskerfürsten folgt, von dem ausdrücklich gesagt war, daß es über die Weser hinübergegangen sei, so schloß der Autor, daß der Fluß, in dem man gelandet, die Ems gewesen sein müsse: in Wirklichkeit lag bloß eine Unaufmerksamkeit des poetischen Berichterstatters vor, der die Römer erst[123] über den Fluß setzen und dann die Brüder von einem Ufer zum andern miteinander reden ließ, ohne zu bedenken, daß sie schon beide auf demselben Ufer waren.

Auffällig ist der Tadel, den Tacitus ausspricht, weil Germanicus, statt gleich an dem feindlichen Ufer zu landen, erst auf dem andern seine Truppen ausgeschifft und mehrere Tage mit Brückenschlagen verloren habe. In einem Epos zum Preise des Germanicus kann das doch schwerlich gestanden haben. Die Sache erklärt sich aber ganz gut wieder aus der Verwechselung der Flüsse. Wenn Germanicus die Weser hinaufgefahren ist, so war es ganz natürlich, daß er zunächst auf dem linken Ufer landete, um bei Rehme oder Minden mit dem von Aliso heranziehenden Korps Fühlung zu nehmen. Das Epos hat aber von diesem Korps nichts berichtet, und Tacitus stellte sich vor, daß das Heer an der Ems ausgeschifft werde. Da war allerdings irgend ein Grund für die Landung am linken Ufer nicht findbar, und Tacitus stand seiner Quelle und seinem Helden unabhängig genug gegenüber, um nach eigener Einsicht wegen eines so groben Fehlers denn doch ein Wort des Tadels einzuflechten.

Angesichts der germanischen Schlachtordnung jenseits der Weser wagt Germanicus nach Tacitus nicht, die Legionen ohne Brücken und Schutzwehren über den Fluß zu führen, und schickt die Reiterei auf einer Furt allein hinüber. Ein völlig unverständlicher Vorgang. Wie sollte denn die Reiterei es allein mit den Germanen aufnehmen? Wollen wir den Zusammenhang verständlich machen, so können wir nur annehmen, daß nicht das germanische Heer, sondern bloß ein stärkerer Beobachtungsposten am jenseitigen Ufer gestanden hat und daß die Reiterei beauftragt wurde, diesen zu verjagen, um den Bau der Brücke nicht stören zu lassen. Die pompöse Wendung: »Caesar nisi pontibus praesidiisque impositis dare in discrimen legiones haud imperatorium ratus« ist nichts als eine rhetorische Floskel. Daß Tacitus von zweimaligem Brückenbau berichtet, über die Ems wie über die Weser, spricht keineswegs dafür, daß wirklich zweimal ein Brückenschlag stattgefunden, sondern es mag sich um zwei Momente desselben Ereignisses handeln, die infolge irgendeiner Unklarheit der Urquelle auseinandergelegt worden sind.

Dem Germanicus wird gemeldet, daß die Germanen einen Platz für die Schlacht gewählt haben und daß sie einen nächtlichen Überfall auf das römische Lager versuchen würden. Der nächtliche Überfall ist eine Phantasie: des Germanicus Heer wird nicht unter 50000 Mann stark gewesen sein, des Arminius Heer, wenn auch viel schwächer, doch sicher immer viel zu groß, um in der Nacht wie eine Schleichpatrouille an den feindlichen Wall und wieder zurückgeführt zu werden.

Zu eben diesen Dichter-Fiktionen gehört auch der germanische Reiter, der in der Nacht an das feindliche Lager heransprengt und die römischen Soldaten in lateinischer Sprache zur Desertation zu verlocken sucht. Er verspricht ihnen Frauen, Länder und 100 Sesterzen auf den Tag; die[124] Phantasie dieses römischen Poeten war doch recht dürftig; erstaunlich genug, daß Tacitus dergleichen Faseleien übernommen hat.

Das Schlachtfeld von Idisiaviso wird uns geschildert »is medius inter Visurgim et colles, ut ripae fluminis cedunt aut prominentia montium resistunt inaequaliter sinuatur; pone tergum insurgebat silva, editis in altum ramis et pura humo inter arborum truncos«. Die Schilderung paßt wohl auf eine Landschaft, aber sehr schlecht auf ein Schlachtfeld; sie kann nicht anders verstanden wer den, als daß der eine Flügel der Germanen sich an den Fluß, der andere an bewaldete Hügel lehnt, im Rücken ein Hochwald. Der Flügel einer Schlachtordnung kann sich aber nicht an mehrere Windungen des Flusses oder mehrere Hügel, die bald mehr, bald weniger tief in das freie Feld hineinragen, anlehnen, sondern es muß für die Hauptstellung zuletzt immer eine bestimmte Stellung am Fluß und ein bestimmter Hügel sein, an den sie sich lehnt.

Die römische Schlachtordnung wird folgendermaßen beschrieben: erst die gallischen und germanischen Hilfstruppen in der Front, dann Bogenschützen zu Fuß, dann 4 Legionen und, mit zwei prätorischen Kohorten und ausgewählter Reiterei, der Feldherr; dann abermals 4 Legionen und die Leichtbewaffneten mit den Bogenschützen zu Pferde und dem Rest der Bundesgenossen. Es leuchtet auf den ersten Blick ein, daß das keine Schlachtordnung, sondern höchstens eine mißverstandene Marschordnung ist.

Die Cherusker standen auf den Hügeln, um von da aus die Römer anzufallen, also in ihre Flanke; indem sie von den Hügeln herunterstürmen, befiehlt Germanicus, sie von zwei Seiten mit der Reiterei zu attackieren, »ipse in tempore adfuturus«. Ein militärisch unverständlicher Vorgang: inwiefern war es möglich, die Cherusker von zwei Seiten zu packen? War etwas das römische Heer schon an ihrer Aufstellung vorbeimarschiert, so daß sie es von der Flanke angriffen? Oder waren die Germanen ihrerseits so schlecht angelehnt, daß sie ohne weiteres umgangen werden konnten, und zwar über bewaldete Hügel hinweg durch Reiterei?

Gleichzeitig greift das römische Fußvolk an und vorausgeschickte Reiterei attackiert die Germanen aus der Seite und von hinten. Diese vorausgeschickte Reiterei kann doch nicht auf dem Schlachtfeld selbst, das auf der einen Seite durch den Fluß, auf der anderen durch das Waldgebirge begrenzt war, die Umzingelung vollzogen haben. Wollte man aber meinen, Germanicus habe von weit her den Gegnern einen Teil seiner Kavallerie in den Rücken geschickt, so hätte Tacitus dieses ebenso außerordentliche wie wirksame Manöver ausdrücklich hervorheben müssen. Es ist aber offenbar ganz falsch, solche kunstvollen Operationen in ihn hinein zu interpretieren; wir haben es mit den Phantasien eines Poeten zu tun.

Unter dem doppelten Angriff fliehen die Feinde, so daß sie sich in ihrer Flucht kreuzen: die den Wald inne gehabt hatten, flohen ins freie Feld, die im Felde gestanden hatten, flohen in den Wald. Man würde sich das zur Not vorstellen können, wenn man annimmt, daß im Walde[125] eine germanische Reserve gestanden hat, die durch den Rückenangriff der Römer auf die römische Front zugejagt wird in dem Augenblick, wo diese selbst schon die Germanen des ersten Treffens vor sich hertreibt. Aber wir erkennen sofort, daß es verlorene Liebesmüh ist, in diese wechselnden Bilder einen militärischen Sinn hineintragen zu wollen, denn wir hören weiter, daß mitten zwischen diesen Flüchtlingen die Cherusker von ihren Hügeln heruntergejagt wurden. Vorhin haben wir erfahren, daß sie ihrerseits von den Hügel herabgestürmt sind und daß Germanicus die Kavallerie gegen sie vorgeschickt hat. Dieser Vorgang kann sich nur auf einem Flügel abgespielt haben, jetzt sind die Cherusker plötzlich in der Mitte, und zwar sind es die Bogenschützen, auf die sie sich gestürzt haben, und sie hätten diese geworfen, wenn nicht die keltischen Hilfskörper sich ihnen entgegengestellt hätten. Wir fragen, wo standen denn die Legionen? Und wir fragen das um so mehr, wenn wir hören, daß Arminius selbst sich vielleicht nur dadurch gerettet, daß die Chauken ihn erkannten und durchließen. Die römischen Legionen sollen, wie wir oben gehört haben, hinter den Bogenschützen, gallischen und germanischen Hilfsvölkern gestanden haben – warum haben sie den feindlichen Feldherrn dann nicht abgefangen?

Fast das ganze germanische Heer soll das Schlachtfeld bedeckt haben. Die Ketten, mit denen die Barbaren die gefangenen Römer zu fesseln gedacht hatten, fand man nachher in ihrem Lager. Diese Ketten kommen in der Weltkriegsgeschichte recht häufig vor, z.B. in der Schlacht bei Ceresole 1544; bei einem Volke, das an Eisen so arm war, daß es sich nicht einmal genügende Waffen schmieden konnte, dürfen wir in ihnen ein doppelt kräftiges Zeugnis der Siegeszuversicht oder aber einen doppelt kräftigen Grund, die Geschichte für erfunden zu halten, sehen.

Ein Siegeszeichen, das Germanicus aufrichtet, setzt die Germanen so in Zorn, daß sie sich noch einmal zu den Waffen greifen. Abermals wählen sie einen Kampfplatz, der durch einen Fluß und Wälder begrenzt ist, und die Wälder umzog ein tiefer Sumpf. Da wir nicht annehmen können, daß die Germanen sich mit dem Rücken gegen einen Sumpf gestellt haben, so muß dieser vor dem Wald gelegen gewesen sein, also als Flügelanlehnung gedient haben. Zwischen Fluß und Sumpf blieb eine enge Ebene, die durch einen Wall, die Landwehr der Angrivarier, abgeschlossen war. Das gäbe ein ganz anschauliches Schlachtfeld, aber die Erzählung stimmt mit diesem Schlachtfeld nicht im allergeringsten. Wie hören von einer Ebene, wo die Römer leicht durchgebrochen seien – wo war sie? Wir hören von Reiterei, die gegen den Wald geschickt wird – folglich war der Sumpf doch hinter und nicht vor dem Walde, und die Germanen hatten eine Stellung ohne Rückzugsmöglichkeit gewählt. Die Römer, die den Damm erstürmen sollen, dringen nicht durch; statt nun den Damm von jener Ebene aus umgehen zu lassen, zieht der Feldherr die Legionen zurück und läßt mit Geschützen und Schleudern den Damm bearbeiten, bis die Germanen weichen. Nun setzt sich die Schlacht im Walde fort, und[126] wirklich hören wir, daß die Germanen im Rücken den Sumpf haben – es ist aber nicht so schlimm gemeint, denn sie haben ihn nur ebenso im Rücken, wie die Römer den Fluß. Der Autor will nicht sagen, daß beide Feldherrn schlechte Taktiker waren, sondern er will nur ein Sprungbrett gewinnen für seine Rhetorik: utrisque necessitas in loco, spes in virtute, salus ex victoria.

Schließlich hatte die Schlacht eigentlich gar kein Ende. Am Abend zieht der Feldherr eine Legion heraus, um ein Lager zu errichten (merkwürdiger Römer, der in eine solche Schlacht hineingeht, ohne vorher ein Lager errichtet zu haben), und die übrigen Legionen sättigen sich an Feindes Blut bis in die Nacht. Nichtsdestoweniger wird zugestanden, daß der Reiterkampf unentschieden blieb. Man lese nach einer solchen Schlachtschilderung zu unmittelbarem Vergleich einmal eine wirkliche Schlachterzählung, z.B. diejenige Cäsars von Pharsalus: dann weiß man nicht nur, daß die Reitschlacht nicht unentschieden bleiben kann, wenn das Fußvolk einen so entschiedenen Sieg gewinnt, sondern man weiß auch, daß an dieser ganzen Erzählung von der Schlacht am Angrivarierwall kein wahres Wort ist.

2. Als Analogie zu den Germanicusschlachten ist die Erzählung Tacitus' von den großen Siegen des Agricola über die Britannier und den beiden Schlachten von Bedriacum heranzuziehen.

Die Erzählung des Sieges über die Britannier ist im allgemeinen einfach und verständlich – aber eben deshalb auch unverkennbar, daß eine nicht sehr bedeutende Waffenhandlung mit dem Pathos eines großen Sieges vorgetragen wird. Die 8000 Mann Auxilien, die Agricola hatte, zusammen mit der Reiterei genügten, die Britannier zu besiegen; die Legionen, im zweiten Treffen oder in Reserve stehend, taten keinen Schlag. Tacitus motiviert das »legiones pro vallo stetere, ingens victoriae decus citra Romanum sanguinem bellanti, et auxilium, si pellerentur«. Wenn wir das wirklich annehmen wollten, müßten wir den Agricola für einen recht mangelhaften Feldherrn erklären: nach der weiteren Erzählung waren die Britannier in großer Überzahl und brachten die Römer eine Zeitlang in Bedrängnis. Das wäre vermieden worden, wenn der Feldherr nicht eine so übergroße Reserve zurückgelassen hätte, sondern sofort einen Teil der Legionen ins Gefecht geschickt hätte. In Wirklichkeit wird diese zeitweilige Bedrängnis zur Ausschmückung gehören, ebenso wie das Motiv für die Zurückhaltung der Legionen und die große Zahl der Britten: diese waren vielmehr so schwach und leisteten einen so geringen Widerstand, daß schon der Anlauf des römischen Vortreffens genügte, sie zu werfen, und es zu einer eigentlichen Schlacht gar nicht kam.

Noch weniger ergeben die beiden Schlachten von Bedriacum; die ganze rhetorisch so machtvolle Erzählung von Tacitus' vom Bürgerkriege ist kriegsgeschichtlich so gut wie wertlos.[127]

In der Schlacht, in der sie die Boadicea besiegten, waren die Römer nach Tacitus ann. XIV, 34 10000 Mann stark und hatten 400 Tote; die Britannier verloren gegen 80000 Mann. Nach Dio, 62, 8, war das britische Heer 320000 Mann stark. Warum auch nicht? Es gibt ja noch immer Gelehrte, streng methodisch durchgebildete Kritiker, die sich die unermeßlichen Zahlen der Perserheere nicht aus dem Herzen reißen können, oder, wenn es denn gar nicht anders geht, vielleicht eine, aber nicht gleich zwei Nullen streichen möchten.

3. Oberstleutnant DAHM hat in einer Abhandlung »Die Feldzüge des Germanicus in Deutschland« den Bericht des Tacitus über den Feldzug 16 militärisch zu retten und zu erläutern versucht.51 Ich habe mich zu diesem Buch in einer Besprechung in der »Deutschen Literatenzeitung«, 1903, Nr. 3, 17. Januar, folgendermaßen geäußert.

Der Verfasser rekonstruiert den Hauptfeldzug des Germanicus im Jahre 16 in der Art, daß das römische Heer, gemäß Tac. Ann. II, 8, in die Ems eingefahren und ein großes Magazin bei Meppen etabliert habe;52 von Meppen sei es durch die Ebene an die Weser marschiert und habe südlich der Porta die Schlacht bei Adisiaviso geschlagen. Zwecks der Verpflegung seien stets Proviantkolonnen von dem Magazin zur Armee unterwegs gewesen. Der tägliche Bedarf der Armee von 100000 Köpfen für Mann und Pferd sei auf etwa 200000 kg anzuschlagen; alle 6 Tage hätte also eine Kolonne von 12000 Lasttieren, die immer zwei nebeneinander eine Länge von 17 km einnehmen, eintreffen müssen.

Diese Rechnung ist viel zu gering. 1. ist der Weg von Meppen bis zu dem vom Dahm angenommenen Schlachtfeld von Idisiaviso gegen 200 km lang; das sind nicht 6 Tagesmärsche, sondern 9 und mit den notwendigen Ruhetagen 12 Tage. 2. sind auf das Pferd als Ration nur 5 kg gerechnet und angenommen, daß das nötige Heu und Stroh aus dem Lande hätten genommen werden können. Das ist bei der ungeheuren Masse, die sich eng beisammen und hintereinander bewegte, ausgeschlossen. Die etwaigen Vorräte wären sofort erschöpft gewesen. 3. ist vergessen, die Verpflegung der Transportkolonnen selbst (24000 Tiere mit Treibern) in Anschlag zu bringen. Bringt man diese drei Faktoren in Anschlag, so erhöht sich die nötige Leistung vielleicht auf das Sechsfache, und es ergibt sich, daß der von dem Verfasser angenommene Verpflegungsmodus technisch unmöglich ist. Unmöglich ist auch schon die Vorstellung, daß jene unabsehbare[128] Masse von Tieren hätte zu Schiff durch die Nordsee transportiert werden können. Unmöglich endlich ist die strategische Annahme, daß ein römisches Heer, das an der Weser operiert, sich auf ein Magazin an der Ems basieren könne: nichts in der Welt wäre ja für Armin leichter gewesen, als eine der meilenlangen Proviantkolonnen von einem starken Detachement irgendwo überfallen und vernichten zu lassen. Dann wäre Germanicus mit seinem ganzen Heer dem Hungertode preisgegeben gewesen.

Den Ausweg, daß die römische Flotte mit der Armee nicht in die Ems, sondern in die Weser eingefahren sei, verwirft der Verfasser mit Entschiedenheit (S. 97), da der Bericht des Tacitus »über jeden Zweifel erhaben« sei. In merkwürdigem Widerspruch damit erklärt er S. 93 eine andere Taciteische Nachricht für »weiter nichts als eine Phrase, die aus der nachweisbaren Unkenntnis des Tacitus auf geographischem und kriegswissenschaftlichem Gebiet hervorgegangen ist.«

Entsprechend dieser Methode, eine Quelle willkürlich bald als unbedingt zuverlässig anzunehmen, bald zu verwerfen, ist die Erklärung, die der Verfasser (S. 95) von der Tatsache gibt, daß Tacitus von jedem präsumierten Marsch von der Ems zur Weser gar nichts zu berichten weiß. Der Verfasser meint, daß dieser Marsch gemacht worden sei, um die in dieser Gegend wohnenden Chasuarier und Angrivarier zu bestrafen; davon erzähle Tacitus aber nichts – »mußte es doch selbst ihm zu viel werden, immer und immer wieder von den feigen Mordbrennereien seines Helden zu erzählen, die bei diesen Verbündeten der Cherusker sicherlich bis zur Unmenschlichkeit gesteigert wurden.« Stärker kann man Römertum und römische Vorstellungsweise wohl nicht verkennen.

Weder militärisch-technisch noch quellenkritisch erscheint hiernach Dahms Auffassung des Feldzuges v. J. 16 haltbar. Wohl hat er richtig erkannt, und das ist ein wesentliches Verdienst, daß das punctum saliens für die römischen Feldzüge in Germanien in der Verpflegungsfrage zu suchen ist, aber für eine richtige Lösung reicht seine wissenschaftliche Methode nicht aus. Ähnliche Fehler wie die oben dargelegten wiederholten sich allenthalben auch in den anderen Feldzügen. (Vgl. noch »Verpflegung und Train« am Schluß dieses Bandes.)

4. KOEPP, Die Römer in Deutschland, ist einsichtig genug, die Unhaltbarkeit des Tacitusschen Feldzugsberichtes über das Jahr 16 anzuerkennen, setzt aber dem Versuch, aus dem strategischen Motiv heraus mit Hilfe unserer genauen Kenntnis der geographischen Verhältnisse die Fehler zu erkennen und zu verbessern, eine kühle Skepsis entgegen und bleibt bei dem ignoramus stehen. Das ist ein Standpunkt, der sich hören ließe, wenn er konsequent durchgeführt wäre. Aber an zahlreichen anderen Stellen kann sich Koepp doch selber nicht enthalten, mit Hilfe strategischer (freilich oft nicht richtiger) Raisonnements der Überlieferung zu Hilfe zu kommen, und die Warnung, zu der er sich erheben zu wollen scheint, wir möchten nicht klüger sein wollen als Tacitus (S. 34), ließe sich leicht gegen ihn[129] selber anwenden. Als Antwort auf diese Warnung aber möchte ich an den trefflichen Mitforscher die Frage richten, ob er meinen Rat befolgt und an Treitschkes Schilderung der Schlacht bei Belle-Alliance seinen Maßstab für Tacitus als Quelle in militärischen Darstellungen nachgeprüft hat. Ich fürchte, er hat es so wenig getan, wie unsere alten Historiker Herodot an Bullinger, Cäsar an Napoleon und Friedrich nachgeprüft haben. Wenn er es getan hätte, bin ich überzeugt, daß sein so schönes wie verdienstliches Buch doch in manchen Partien etwas anders geworden wäre.

5. GERHARD KESSLER, Die Tradition über Germanicus (Leipziger Dissertation 1905) hat auf dem Wege der Quellenanalyse auch die germanischen Feldzüge aufzuhellen gesucht. Er nimmt als Hauptquelle des Tacitus eine Germanicusbiographie an, die auch dem Bericht Dios zugrunde liege. Die tatsächlichen Ereignisse decken sich durchweg mit den in diesem Werke vorgetragenen, namentlich auch in dem Punkt, daß die römische Flotte im Jahre 16 nicht in die Ems, sondern in die Weser eingelaufen sei. Den Übergang des Germanicus erst über die Ems und dann über die Weser weist Keßler sehr geschickt als Doublette nach. Wenn Keßler aber meint, daß die ganzen acht Legionen (S. 51) auf dieser Flotte transportiert worden seien, hat er sich nicht klar gemacht, was dazu gehört, ein Heer von 50000 Kombattanten eine so gewaltige Seereise machen zu lassen. Man kann sich nicht etwa darauf berufen, daß Germanicus schon im Jahre vorher vier Legionen zu Schiffe expediert, diesmal nach Tacitus ausführlichem Bericht noch viele neue Schiffe gebaut, also ein erheblich größeres Heer der aufgesetzt habe. Zwei Legionen mit den Hilfstruppen und den gesamten Lebensmitteln und sonstigen Vorräten, die das ganze Heer für den vollen Sommerfeldzug gebrauchte, Schiffe, die durch die Nordsee fahren konnten, und Hilfsschiffe, die wieder die Flüsse möglichst weit hinauffahren konnten, das ist eine so ungeheure Rüstung, daß die Schilderung des Tacitus vollauf gerechtfertigt erscheint. Die vier Legionen im Jahre vorher werden ohne Hilfstruppen gewesen sein; von der Reiterei ist ausdrücklich berichtet, daß sie zu Lande durch das Gebiet der Friesen zog. Auch war diese Expedition bloß in die Ems gegangen, nicht, wie ja auch Keßler von der neuen annimmt, in die Weser. Die neue Expedition war also, auch wenn die eingeschifften Landtruppen schwächer waren, doch sehr viel bedeutender und machte die größten Vorbereitungen nötig.

Acht Legionen mit Hilfstruppen, Reiterei und Magazinen für einen ganzen Feldzug von den Batavischen Inseln bis in die Weser ist als Transport nicht nur so gut wie unausführbar, sondern war auch gänzlich überflüssig, da das römische Heer viel schneller, kürzer und bequemer von der Lippe aus zu Lande in das Gebiet der Cherusker einbrechen konnte. Nicht der Transport der Armee, sondern die Heranführung der Verpflegung, eines schwimmenden Magazins, ohne das das römische Heer im Cheruskerlande nicht operieren konnte, war der Zweck der großen Flottenrüstung.[130] Die zwei Legionen und Hilfstruppen, die auf der Flotte waren, waren nur nötig zur Deckung. Diese Bedeutung des Verpflegungsmoments hat Keßler nicht genügend gewürdigt, und das hat nicht nur an dieser Stelle, sondern auch sonst seine strategische Kritik auf Irrwege geführt und ihn schließlich zu einem durchaus ungerechtfertigten und unbegründeten Urteil über die strategische Befähigung und den Charakter des Germanicus verleitet. Man darf dem Germanicus den Ruhm nicht versagen, daß er die äußerste Energie zur Durchführung seiner Aufgabe aufgeboten hat, und daß auch die Mittel, die er anwendet, die verschiedenen Wege, die er einschlägt, richtig gedacht sind und den Umständen und Verhältnissen wohl entsprechen. Nur dann erhält ja auch Arminius seine weltgeschichtliche Stellung. Wäre Germanicus ein so einsichtsloser Mensch gewesen, als welchen ihn Keßler erscheinen läßt, wäre Segest und seine Sippe so bedeutungslos gewesen, so hätte ja auch die Leistung Armins so großes nicht zu besagen. Das Entscheidende ist aber gerade, daß nach allem menschlichen Ermessen Germanicus richtig gerechnet hatte, daß, wenn er mit seinem ungeheuren Heer an der Weser erschiene, die cheruskischen Fürsten in seinem Gefolge und mit der Lebensmittelflotte hinter sich in der Lage, den Krieg den ganzen Sommer auszuhalten, die Cherusker ihre Sache als verloren ansehen und sich unterwerfen würden. Daß es dennoch nicht geschah, daß die Cherusker trotz allem den Kampf fortsetzten und fest zu ihrem Führer hielten, zeigt uns noch viel mehr als die Schlacht im Teutoburger Walde, daß Armin wirklich ein großer Mann war.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 123-131.
Lizenz:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon