Fünftes Kapitel.

Die Volksheere auf der Wanderung.

[317] Das kriegerische Wanderleben der germanischen Völkerschaften konnte nicht ohne eine starke Rückwirkung auf ihre sozialen Zustände und ihre politische Verfassung sein. In der Heimat lebte jedes Geschlecht in seinem Dorf unter seinem Hunno oder Altermann, der selbst zu den Gemeinfreien gehörte; über der Völkerschaft, die aus einer Gruppe solcher Geschlechter bestand, eine oder einige Fürstenfamilien, aus denen für den Krieg ein Herzog gewählt wurde. Mit diesem einfachen institutionellen Apparat hatte man auskommen können; für die Kriegsfahrt, wie sie jetzt gemacht wurde, genügte er nicht.

Schon in der ältesten Zeit war es oft vorgekommen, daß aus dem Fürstentum oder Herzogtum sich ein Königtum entwickelt hatte, das sich vererbte, oder auch wieder aufgelöst worden war. Jetzt war eine dauernde monarchische Spitze unentbehrlich. Die strategischen Aufgaben, die man sich stellte, standen stets im engsten Zusammenhang mit der Politik, dem Verhältnis sowohl zu anderen germanischen Völkerschaften, wie zum römischen Reich, dem römischen Kaiser oder den verschiedenen Kaisern, den Prätendenten, die mit einander um den Thron stritten. Trat eine germanische Völkerschaft als Gesamtheit, als Heer in den Dienst des Herrschers in Rom oder Byzanz, so machte der König das Mittelglied, indem er als germanischer Fürst zum römischen Heerführer ernannt wurde. Der König der Ostgoten, Theoderich der Große, rückte im Auftrage des Kaisers Zeno als sein Magister militum praesentalis in Italien ein.204[317]

Es sind jedoch bemerkenswerte Unterschiede in dem Charakter dieser neugebildeten Monarchien.

Der Vandale Geiserich, der ein halbes Jahrhundert regierte und die Fiktion, daß er nur eine Art Statthalter des Kaisers in Afrika sei, schon nach wenigen Jahren verschmäht und sich zum souveränen Herrn gemacht hatte, war stark genug, das Königtum seiner Dynastie ganz auf sich selbst zu stellen. Er erließ eine Thronfolgeordnung, die zwar nicht die Primogenitur, aber doch das Seniorat festlegte und tatsächlich beobachtet wurde. Der letzte König Gelimer ist sein Urenkel.

Theoderich der Ostgote war gewiß nicht weniger mächtig als Geiserich, aber er hinterließ keinen Sohn, nicht einmal einen Schwiegersohn. Er vermachte die Königskrone seinem Enkel von seiner Tochter unter deren Vormundschaft. Als aber auch der junge König Athanarich starb, ehe er zu seinen Jahren gekommen war, konnte Amalasuntha sich nicht behaupten, und in dem Kriege mit dem Kaiser Justinian, der nunmehr ausbrach, fielen die Ostgoten in das reine Wahlkönigtum zurück.

Beim Wahlkönigtum, das nur einige Generationen hindurch durch ein Erbkönigtum unterbrochen wurde, langten auch die Westgoten wieder an.

Ganz anders aber wurde die Entwicklung bei den Franken. Die Reiche der Vandalen und Goten waren begründet worden durch ein eroberndes Volk; das Reich der Franken wurde begründet durch einen erobernden König. Die Masse der Germanen im Frankenreiche war unendlich viel größer als in all den anderen Königtümern, aber der größte Teil blieb entweder ganz in den alten Sitzen oder schob sich nur einige Tagemärsche weit in das ehemalige romanische Gebiet vor. Das merowingische Königtum war kein Heerkönigtum wie das Alarichs, Geiserichs oder Theoderichs, sondern entstand, indem der Fürst einer einzelnen Völkerschaft, Chlodwig der Salier, es dahin brachte, auch von vielen andern verwandten Völkerschaften als ihr König anerkannt zu werden, und ein großes römisches Gebiet dazu eroberte. Hier wieder in das Wahlkönigtum zurückzufallen, war von vornherein unmöglich, denn es gab keine allgemeine Heeresversammlung. Die Heere, die den Witiges, Totilas oder Tejas zu Königen gewählt[318] haben, haben wirklich einen so großen Teil der ostgotischen Kriegerschaft umfaßt, daß die Wahl auch als der Willensausdruck des Volkes angesehen werden konnte. Die Heere, die sich um einen Frankenkönig versammelten, stellten seit der Begründung des fränkischen Großkönigstums immer nur einen kleinen Teil des Gesamtvolkes der Franken dar. Da nun auch der Mannesstamm der Merowinger sich Jahrhunderte lang erhielt, so befestigte sich hier eine Erddynastie, stark genug, sogar die wiederholten Reichsteilungen und Bürgerkriege zu überdauern.

Von der Spitze an zieht sich die institutionelle Abwandlung durch den ganzen Staats- und Heeres-Organismus der Germanen.

Wir haben die Westgoten auf 10-15000 Mann geschätzt; eine solche Masse verlangt, wenn sie nicht bloß einen kurzen Kriegszug macht, sondern dauernd im Felde liegt und durch feindliches Gebiet zieht, eine feinere Gliederung als in Hundertschaften. Der König oder Herzog kann nicht seine Befehle an 100 Hunni direkt gelangen lassen: es bedarf einer Zwischeninstanz, die nicht bloß vorübergehend bestellt wird, sondern dauernd funktioniert. Ebenso wenig kann die Hundertschaft die kleinste Einheit bilden. Der römische Centurio hatte noch eine Reihe von Subaltern-Offizieren, Korporalen und Gefreiten unter sich; eine moderne Kompagnie auch nur von 100 Mann hat wenigstens 2 Offiziere und 10-12 Unteroffiziere nötig. Die germanische Hundertschaft ist ja aber viel mehr als eine römische Centurie; sie wird nicht nur oft erheblich größer sein, sondern es gehören vor allem auch die ganzen Hausstände dazu. Der römische Centurio hat nur für den Dienst zu sorgen; Waffen, Sold, Verpflegung liefert den Soldaten die Intendantur, die Centurie hat höchstens die Verteilung, Beaufsichtigung, Instandhaltung. Die germanische Hundertschaft muß sich meistens ihre Verpflegung selbst besorgen – über einen Intendanturapparat mit seinen Kontrollen verfügte die Heeresleitung kaum –, und nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihren ganzen Anhang. Das ist auch bei der schonungslosesten Ausplünderung des Landes ganz unmöglich ohne eine sehr weitgehende Gemeinwirtschaft. Der Agrarkommunismus, in dem man zuhause gelebt hatte, genügte hier nicht; man mußte nicht[319] nur gemeinschaftlich Beute machen und konnte dann die Beute verteilen, sondern man mußte sehr große Vorräte dauernd gemeinsam verwalten. Hätte man die einzelne Familie darauf angewiesen, für sich selbst zu sorgen, so wäre bald das ganze Heer auseinander gelaufen und eine Beute des Feindes geworden. Fortwährend mußte Gewonnenes bald unter die Hundertschaften, bald von diesen an die einzelnen verteilt werden. Kleine Abteilungen mußten abgeschickt, und was sie mitbrachten, als Eigentum aller angesehen und übernommen werden, damit stets ein Gros zusammenbleibe und zusammenhalte. Für diesen Dienst nach außen und innen bedurften die Hunni der Unterführer.

Während wir also im germanischen Urstaat keine andere Einteilung als in Hundertschaften finden, so kommandiert oder regiert jetzt der König größere Abteilungen oder Gebiete durch hohe, von ihm ernannte Beamte, die comites oder Grafen; über diesen, aber nicht eigentlich im Wesen, sondern nur im Range und Machtumfang unterschieden, Herzöge, duces.

Nach unten aber finden wir wenigstens bei einem Volke Spuren, die auf eine Art von wirklicher Militär-Hierarchie hinzuweisen scheinen. In der Gesetzgebung der Westgoten, von der uns viel erhalten ist, finden sich Tausendschaftsführer, Thiuphadi (millenarii) als Übergeordnete der Hunni (centenarii), und Zehnschaftsführer (decani), als ihre Untergebene.

Wenn wir auch noch einen Fünfhundertführer (quingentenarius) finden, so wird das nicht als eine Instanz zwischen dem millenarius und den centenarius aufzufassen sein, sondern als eine Differenzierung, die sich gebildet hatte, weil manche Tausendschaften sehr viel kleiner geworden waren als andere.

Dieser Aufbau von der Zehnschaft zur Hundertschaft, zur Tausendschaft und darüber vielleicht noch eine Zusammenfassung unter einem Grafen oder Herzog ist nun aber nicht als ein ganz gleichartiger Schematismus aufzufassen wie Korporalschaft, Kompagnie, Regiment, Korps, sondern es ist eine Stelle darunter, die notwendig einen ganz anderen Charakter hat oder behält, als alle die anderen. Das ist der Ur- und Grund-Organismus, die Hundertschaft.[320]

Auch bei uns ist ja die Kompagnie etwas wesentlich anderes, in viel stärkerem Maße eine geistige Einheit als etwa die Korporalschaft oder das Bataillon. In noch viel höherem Grade trifft das auf die germanische Hundertschaft zu. Die Zehnschaft ist ein bloßes Hilfsglied der Hundertschaft; die Tausendschaft ist eine Zusammenfassung von Hundertschaften für die Zwecke der Heerführung. Die Hundertschaft aber hat ihr eigenes selbständiges Dasein. Man kann diese oder jene Hundertschaften zu einer Tausendschaft zusammenstoßen lassen; man kann die Hundertschafts-Männer so oder so in Zehnschaften teilen. Eine Hundertschaft aber kann man nicht so beliebig weder zerreißen noch gar zusammensetzen. Dies letztere überhaupt kaum, denn die Hundertschaft ist zugleich das Naturprodukt Geschlecht. Teilung findet leichter statt, ist aber jedesmal ein höchst bedeutsamer und nicht einfacher Akt, denn die Hundertschaft ist nicht bloß eine militärische und natürliche, sondern auch eine wirtschaftliche Einheit. Eine Tausendschaft ist zu groß, eine Zehnschaft ist zu klein, um die Gemeinwirtschaft zu führen, die die Kriegsfahrt postuliert, und einen Mittelpunkt, einen Organismus kann es für diese Funktion nur geben. Der gemeinschaftliche Besitz an Vieh, Wagen, Vorräten, Waffen, der mitgeführt wurde, kann nur der Hundertschaft gehört haben. Deshalb ist der Tausendschaftsführer nur militärisch und richterlich der Vorgesetzte des Hunno, der Dekan nur dessen Agent und Instrument. Weder die Tausendschaft noch die Zehnschaft sind Gruppen, die etwa auch einen eigenen Willen geltend machen könnten. Trotz Tausendschaft darüber und Zehnschaft darunter bleibt auch in der Völkerwanderung die Hundertschaft zunächst, was sie von je gewesen ist.

Es ist schon von DAHN beobachtet worden205, daß offenbar bei der Niederlassung der Goten in Spanien wie in Italien die Geschlechter oder Sippen noch eine bedeutende Rolle gespielt haben. Sie machen sich geltend im Recht und in den Ereignissen wo relativ selbständige Gruppen bei Waffenruhe, Unterwerfung, Widerstand auf sehr feste organische Einheiten im Kleinen schließen lassen. Auch noch die spätere westgotische Gesetzgebung läßt die[321] alte Bedeutung des Hunno erkennen, indem sie ihn mit dem Tode bedroht, wenn er das Heer verlassen sollte, während der Thiuphath dabei gar nicht erwähnt ist und der Dekan mit 5 Solidi Strafe davon kommt.

Ferner wird bestimmt, daß die Strafgelder, die eingehen, auch die des Thiuphath oder Dekan, unter die Hundertschaft verteilt werden sollen. Diese ist also die eigentliche Korporation.

Die Tausendschaft finden wir nur bei den eigentlichen Wandervölkern, den Goten und Vandalen. Vielleicht bedeutet derselbe Name bei den einen und den anderen nicht dasselbe;206 auf jeden Fall erklärt er sich am besten durch das militärische Bedürfnis der Wanderung; einen ethnographischen Unterschied zwischen Ost- und Westgermanen deshalb anzunehmen, ist nicht notwendig.

So sehr sich begrifflich die Hundertschaft von ihren Über- und Unter-Abteilungen scheidet, so ist dennoch anzunehmen, daß praktisch diese Einteilungen und Nomenklatur bald ineinander übergegangen sind. Der Krieg bringt es mit sich, daß ursprünglich gleich starke Abteilungen sehr bald sehr verschieden stark sind. Nach einem halben Jahre Krieg wurden aus 14 Landwehrbataillonen der Schlesischen Armee im Jahre 1814 vier Bataillone formiert. So gleicht moderner Schematismus immer wieder aus; es ist möglich, daß auch in germanischen Heeren dergleichen zuweilen geschehen ist. Die Tausendschaften, die Geiserich zählte, als er sein Volk nach Afrika hinüberführte, sind, wie wir oben wahrscheinlich zu machen suchten, solche Organisationen.

Das leitet uns dazu über, daß, so große Bedeutung die Hundertschaften auf der Wanderung noch hatten, ihre Tage dennoch gezählt waren. Eben dieselben Verhältnisse, die sie noch einmal mit neuem Leben erfüllten, trieben damit doch gleichzeitig zu ihrer Auflösung. Der organisatorische Wille von oben schränkte sie ein, zahlreiche einzelne unter den mannigfachen Einwirkungen des Krieges und der Wanderung lösten sich ab, und namentlich das Haupt des Ganzen, der Hunno.[322]

Die Urgermanen hatten außer den wenigen Familien der Fürsten keinen Adel; die Hunni gehörten zu den Gemeinfreien. In der Völkerwanderung erkennen wir bei den Germanen einen viel breiteren Adelsstand. Eine doppelte Wurzel dieses neuen Standes ist denkbar: der Königsdienst und die Hunni-Familien. Kein Zweifel, daß ein großer Teil des Adels aus dem Dienste des neuen Königstums hervorgegangen ist: der Hof, die Armeeführung, die Verwaltung erzeugten Ämter, die Ansehen und Reichtum brachten und vererbten. Wir werden darüber noch viel zu sagen haben.

Aber das Königtum der Völkerwanderung war selbst zu jung, um aus sich schon einen neuen Stand aufsprießen zu lassen, der sich auf seine Ahnen berief. Dieser Adel muß Elemente von höherem Alter und größerer Selbständigkeit gehabt haben, und das können nur die alten Geschlechtshäupter sein. Schon in der alten Zeit gehen ja Fürstenfamilien und Hunnofamilien, obgleich begrifflich verschieden, doch ineinander über. Wenn eine kleine Gruppe von Hundertschaften unter einem Fürstensohn sich von dem bisherigen Volksverband loslöste, und wenn eine Hundertschaft sehr groß wurde, sich teilte, einige neue Hunnofamilien entstanden, die älteste aber an Ansehen und Wohlstand einen Vorrang behauptete, so waren hüben und drüben ähnliche Verhältnisse geschaffen.207 Die Völkerwanderung und schon vorher die glücklichen Raubzüge ins Römische wirkten weiter in der Richtung, die Hunnofamilien aus der Masse herauszuheben, sie den Fürsten zu nähern und auf diesem Wege einen Adel aus ihnen entstehen zu lassen, den die Urzeit noch nicht kannte.

Die Gemeinwirtschaft des Geschlechts konnte nicht anders geführt werden, als daß sie ganz und gar in die Hand des Hauptes, des Hunno, gelegt wurde. In der alten Zeit hatte man, vom Kriegszuge heimgekehrt, die Beute verteilt; der Hunno stand dabei unter der eifersüchtigen Kontrolle aller Genossen, und nach der[323] Verteilung lebte man wie vorher. Jetzt wurde ein sehr großer Teil der Beute überhaupt nicht verteilt, sondern blieb in der Hand und Verwaltung des Chefs, der nach Ermessen und Notdurft davon abgab. Kontrolle und Einspruch war bei währender Kriegshandlung schwer anzubringen, und jeder einzelne war um so mehr auf das diskretionäre Ermessen des Hunno angewiesen, als aus eigenen Mitteln zu leben niemand mehr in der Lage war. Zu Hause hatte man wenig Ackerbau getrieben und hauptsächlich von Heerden gelebt; jetzt wurde oft jahrelang gar kein Acker bestellt, und von den Heerden konnte, abgesehen vom Zugvieh, der langen Fahrt wegen nur wenig folgen. »Das Wandern«, sagt Ratzel in seiner »Politischen Geographie« (S. 63), »ist verlustreich: die Boeren, die 1874 von Transvaal nach Westen gezogen waren, hatten 10000 Rinder und 5000 Pferde mitgenommen, die bei der Ankunft in Damaraland 1878 auf 2000 Rinder und 30 bis 40 Pferde zusammengeschmolzen waren.«

Als Theoderich der Ostgote die vor Chlodwig flüchtenden Reste der Allemannen in Rhätien ansiedelte, befahl er, daß sie (»itineris longinquitate defecti. ... ut illorum provectio adjuvetur«) bei dem Durchzug durch Noricum ihr Vieh mit dem der Einwohner austauschen sollten.208

Es ist ganz ausgeschlossen, daß die Vandalen von der Donau über die Pyrenäen bis nach Afrika, die Westgoten vom Schwarzen Meer durch die Balkanhalbinsel, Italien über die Alpen bis nach Gallien und Spanien große Heerden von Milchkühen und Kleinvieh mitgetrieben haben. Die Länder, die man durchzog, waren ja reich genug, einige Tausend germanische Familien zu ernähren, aber doch nur dann, wenn die Kriegsführer einigermaßen für Ordnung und Verteilung sorgten. Sie mußten dem einzelnen geben und immer dabei ihr Augenmerk darauf gerichtet[324] haben, daß für Tage und Wochen, vielleicht oft Monate, genügende Vorräte erhalten blieben. Die hauptsächlichste Beute, die die Germanen unter der unkriegerischen römischen Bevölkerung machen konnten, war, abgesehen von Lebensmitteln und Kostbarkeiten, die Bevölkerung selbst: man erklärte sie für versklavt und nahm sie mit. Man hätte aus den gutbevölkerten, wehrlosen Landschaften Hunderttausende mitgehen heißen können – wenn man imstande gewesen wäre, sie zu ernähren. Aber was wäre aus der Bewegungsfähigkeit und Kriegsbrauchbarkeit eines Germanen-Heeres geworden, wenn es, sagen wir, neben 10000 Männern, 30000 Weibern und Kindern209 auch nur 40000 oder 30000 Unfreie noch hätte allenthalben mit herumführen wollen? Der Hunno, müssen wir uns vorstellen, verschaffte sich so viel Sklaven als er gebrauchte, um sie für die Allgemeinheit sorgen zu können; der Gemeinfreie aber mochte sehen, seine Beute in Schmuck, Edelsteine, Gold, Waffen umzusetzen, im übrigen aber mußte er, so lange man wanderte, in seiner alten Simplizität weiterleben.

Die Verhältnisse der Wanderung bringen es also mit sich, daß die Autorität, die Macht und der Besitz des Hunno sich aus der Masse gewaltig emporhebt. Wohl ist sein Besitz im Grunde der Besitz der Gemeinschaft, des ganzen Geschlechts, aber der Hunno hat so sehr die ausschließliche Verfügung darüber, daß eine derartige Unterscheidung verschwindet und erlischt. Der Hunno ist reich, wird immer reicher und vererbt seinen Reichtum auf seine Familie.

Unzweifelhaft sind die Hunni ursprünglich gewählt worden, aber schon früh und oft ist die Volkswahl bei denselben Familien geblieben und hat sich auf diese Weise ein Erbanspruch und endlich auch ein Erbrecht entwickelt. Seit nun diese Hunni-Familien zu den wirtschaftlichen Herren und fast Brotgebern ihrer Genossenschaft geworden waren, war es ganz unmöglich geworden, etwa bei Abgang eines Chefs seine Familie zu übergehen und[325] einen Mann aus der Menge zu wählen. Ganz von selbst ging das Amt über vom Vater auf den Sohn, und die Familie gehörte damit nicht mehr zu den Gemeinfreien, sondern hatte eine Ausnahmestellung. Sie ist adelig. Das Volk, das bisher nur einen Fürstenadel hatte, hat jetzt auch einen niederen Adel.

Von den Wandervölkern das stärkste Königtum hat, wie wir sahen, aus besonderen, mehr oder wenigen zufälligen Gründen der Vandalenstamm entwickelt: zweimal erhoben sich gegen Geiserich die »Optimaten«, d.h. der Häuptlingsadel, wurden von ihm aber überwunden und niedergeworfen (i. J. 442).

Die Bayern (Markomannen), Allemannen (Schwaben, Hermunduren, Juthungen) und Franken (Chamaven, Chattuarier, Bataver, Sugambrer, Ubier, Tenchterer, Marser, Brukterer, Chatten) haben nur eine ganz kurze Wanderung ins Nachbargebiet oder auch gar keine eigentliche Wanderung gemacht, sondern sind nur über ihre alten Grenzen hinübergequollen. Dabei haben sie in dem Lande, das sie an den Ufern des Rheins und der Donau, bis zu den Alpen, den Vogesen, dem Eingang des Ärmelmeeres eingenommen haben, keineswegs alle die romanisierten keltischen oder auch germanischen Einwohner ausgetrieben, sondern diese sind vielfältig zwischen den Eroberern sitzen geblieben und allmählich germanisiert oder regermanisiert worden. Wir finden später, namentlich in Bayern, aber auch in den anderen genannten Gebieten große Grundherrschaften, oft noch als romanische Dörfer erkennbar in Abhängigkeit von vornehmen germanischen Familien.210 Wir werden uns den Vorgang bei der Eroberung so zu denken haben, daß romanische Dorfschaften sich den Schutz eines germanischen Fürsten oder Hunno erbaten, dafür in sein Patronat traten und ihm Abgaben zahlten. Diese Form der Abhängigkeit und der Ausnutzung unfreier Arbeitskräfte war schon in der Urzeit[326] den Germanen geläufig. Wir brauchen nicht anzunehmen, daß es allein und ausschließlich die wenigen Fürstenfamilien gewesen sind, welche nunmehr einen großen Besitz von zinsenden Kolonenfamilien (Liten, Aldionen, Barschalken) erwarben, auch die Hundertschaftsführer waren imstande, Schutz zu gewähren, und konnten die Gelegenheit benutzen, dadurch Herren zu werden. Dieser Herrenstand konnte sich um so stärker entwickeln, als die Bayern und Allemannen bei der Okkupation der süddeutschen Landschaften noch kein einheitliches Fürstentum hatten. In der Schlacht bei Straßburg weiß Ammian von sieben Königen (reges) und zehn Regals zu erzählen, die die Allemannen führen. Die Könige sind offenbar das, was Tacitus principes nennt, Fürsten wie Armin; was wir unter den Regals zu verstehen haben, muß dahingestellt bleiben. Das Herzogtum als dauernde höchste Gewalt hat sich bei den Allemannen wie bei den Bayern jedenfalls erst später über die anderen Edlen des Landes erhoben und ist bei den Allemannen bald wieder zugrunde gegangen, bei den Bayern vielleicht erst durch die Franken eingerichtet worden, als diese sie unterwarfen. Das bayerische wie das allemannische Recht kennt einen Adel mit erhöhtem Wehrgeld; bei den Bayern gab es außer dem Herzogsgeschlecht später fünf hohe Adelsfamilien.

Auf der britannischen Insel war das Verhältnis der Eingesessenen zu den erobernden Germanen ähnlich wie bei den Bayern und Allemannen; sie blieben als Unterworfene zum Teil zwischen ihnen sitzen und wurden aufgesogen. Die alten Fürstenfamilien steigen auf zu Kleinkönigen, die alten Hunni (Altermänner) werden zu vornehmen Edlen, den Earls.

Auch auf dem linken Rheinufer unter den Franken haben sich bei der Okkupation große Grundherrschaften gebildet,211 aber das aufkommende Königtum der Merowinger hat sie niedergehalten, so daß im Unterschied von allen anderen germanischen Stämmen in dieser Epoche hier kein Adel entsteht. Der König regiert allein durch seine Grafen; der Hunno oder Tunginus sinkt zum Dorfschulzen herab.[327]

Im urgermanischen Staat finden wir die Anlage zu beidem, zu einem Königtum und zu einem Häuptlingsadel. Beides erscheint in der Völkerwanderung: mit der Maßgabe, daß, je stärker das Königtum, je schwächer der Adel, bis zur völligen Nullität im Frankenreich; je schwächer das Königtum, desto mächtiger der Adel; bei den Bayern und Allemannen gar kein Königtum, bei den Angelsachsen Kleinkönige, bei den Westgoten Wahlkönige.

Bei der einen wie bei der anderen Entwicklung: eins geht allenthalben gleichmäßig zugrunde, die Urzelle des alten germanischen Staatswesens, das Geschlecht, die Hundertschaft. Der neue Stand der Edlen, so wie er sich gebildet hat und noch während er sich bildet, löst er sich schon los von dem Mutterboden, auf dem er erwachsen ist. Es ist natürlich, daß die hohen Ämter, die der König jetzt vergab, zum nicht geringen Teil eben mit Gliedern dieser Häuptlingsfamilien besetzt wurden, so daß der Dienstadel und Volksadel in einander übergehen. Wählte sich nun die Hundertschaft einen neuen Chef oder ließ sich von dem abgehenden oder auch von dem König einen neuen geben, so ist das Verhältnis doch nicht ganz das alte. Der neue Hunno, ohne Ahnen, ohne großen Besitz, fängt von unten wieder an; er ist noch mehr wieder der bloße Beamte, und die Hundertschaft selbst, nicht mehr in dem patriarchalischen Vertrauensverhältnis zu ihrem Häuptling, wird lockerer.

Der Häuptling, der sich von seinem Geschlecht getrennt hat, hat einen bloßen Rumpf zurückgelassen. Indem er gegangen ist, ist er auch nicht allein gegangen, sondern hat eine Anzahl von besonders tüchtigen Leuten mitgenommen, die sich ihm als Gefolgsmänner anschließen, in seinen Dienst treten; der durch den Krieg erworbene Reichtum erlaubt, der politische Ehrgeiz erzeugt diese Ansätze. Eine militärische Einteilung, wie die Zusammenfassung in Tausendschaften, die Unterteilung in Zehnschaften, zieht der Hundertschaft auch noch einige Kraft ab, um so mehr, wenn sie selbst nicht mehr unter angestammten, sondern ernannten Chefs steht.

Völlig auflösend auf das Wesen der alten Hundertschaft wirkt endlich die Ansiedlung und Ausbreitung über die weiten eingenommenen Landschaften; alle Bedingungen des Daseins sind verändert.[328]

Die Hundertschaft wohnt nicht mehr an einer Stelle beisammen. Die Gemeinschaft hört auf. In den romanischen Gebieten verteilt man sich zwischen die Romanen. In den germanischen Gebieten fängt man an, dem kriegerischen Leben zu entsagen und sich mehr und mehr der Pflege des Ackerbaues zuzuwenden. Die großen Geschlechtsdörfer lösen sich auf in kleinere, wo jedermann seinen Acker in der Nähe haben kann. Neue Adelsfamilien können aus der Wurzel der Geschlechts-Hauptmannschaft nicht mehr erwachsen. Die Hundertschaft besteht nur noch als Bezirkseinteilung und stirbt schließlich ab.

In der ältesten Zeit war das Geschlecht die Gemeinschaft, die zusammen Land in Besitz nahm, zusammen lebte, wirtschaftete, kämpfe; nach der wirklichen Verwandtschaft wurde nicht gefragt, sie konnte unendlich entfernt sein. Indem nun die Lebensgemeinschaft aufhörte, namentlich der Gemeinbesitz des Ackers in Privateigentum überging, mußten für die noch bleibenden Funktionen des Geschlechts, Gerichtshilfe, Vormundschaft, Wehrgeld, bestimmte Grenzen gesetzt werden. Bei den verschiedenen Stämmen fiel sie verschieden aus, bei den einen wurde das fünfte, bei anderen das sechste oder aber das siebente Glied (Knie) als das Ende der Sippe bestimmt.

Noch in jüngeren Quellen klingt zuweilen das alte Zusammenstehen der Sippe im Kampfe durch; im Beowulf soll noch die ganze Magschaft bestraft werden, wenn einer ihrer Mannen als Feigling erfunden wird212, aber mit dem Abschluß der Völkerwanderung ist auch die letzte Spur des Geschlechts als Truppe bis auf das Wort (falls nämlich »Truppe« etymologisch dasselbe ist wie »Dorf«) verschwunden.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 317-329.
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