Zweites Kapitel.

Vermehrung der Schützen.

Verfeinerung der Infanterietaktik.

[170] Die schweizerische Taktik ist nach ihrer Ausbreitung über Europa sozusagen zum Stillstand gekommen. Bei der Methode, den Feind, wo man ihn fand, mit drei großen Haufen anzugreifen, hatte die Voraussetzung obgewaltet, daß, wenn der eine oder andere auf ein zunächst unüberwindliches Hindernis stoße, doch bei dem weiten Ausgreifen sich irgendwo eine Stelle ergeben werde, wo einer der Haufen einbrechen und dadurch auch den anderen den Weg freimachen werde. Wenn nun aber der Gegner eine Stellung einnahm, die weder in der Front angreifbar, noch auf einer der beiden Flanken zu umgehen war, so war auch der tapferste Ansturm machtlos. Das hatte Bicocca gezeigt, und bei Pavia hatten die Schweizer als ein Teil des französischen Heeres selber, in einer, wie man meinte, unangreifbaren Stellung Schutz gesucht. Die Vermehrung und Verbesserung der Feuerwaffen machte es mit der Zeit immer leichter, derartig unangreifbare oder schwer angreifbare Stellungen zu finden. Die strategischen Momente, die dazu führten, es nur selten auf eine große Schlacht ankommen zu lassen, werden wir noch kennen lernen. Nur die Schlacht aber war es, in der der mit den langen Spießen bewehrte große Haufe seine ganze Bedeutung zeigte. War es nicht möglich oder hielt es der Feldherr nicht für ratsam, die Schlachtentscheidung herbeizuführen, und beschränkte sich der Krieg auf gegenseitiges Ausdauern mit kleinen Unternehmungen, Überfällen, Einnahmen von Schlössern, Belagerungen, so war die Schußwaffe nützlicher und nötiger als der lange Spieß, und neben der Verwendung der Schützen wuchs das Feld der Tätigkeit für den leichten Reiter.[170]

Der Fortgang der Dinge ist also, daß die Zahl der Schützen unausgesetzt vermehrt, während gleichzeitig ihre Waffe fortwährend verbessert wird.

In derselben Zeit setzt sich die Ritterschaft allmählich in Kavallerie um.

Im Beginn des 16. Jahrhunderts machten die Schützen vielleicht ein Zehntel der blanken Waffen des Fußvolks aus. 1526 waren es unter Frundsberg ein Achtel. Von den Spaniern wird 1524 berichtet, sie seien an Schützen stärker gewesen als die Schweizer und auch besser geübt. Im Schmalkaldischen Krieg stiegen die Schützen bei den Landsknechten bis auf ein Drittel, und Philipp von Hessen verlangt bei seinem Landesaufgebot sogar die Hälfte. Domenico Moro 1570 und Landono 1578 nahmen die Hälfte an. Adr. Duyk 1588 rechnet auf 40 Spießer bereits 60 Schützen und so geht es fort181.

Die Theoretiker sprachen gegen diese gar zu starke Vermehrung der Schützen. De la Noue (14. Discurs) will sie auf ein Viertel beschränken und den Pikenieren (corcelets = Gewappneten) höheren Sold geben. Monluc meint, die Soldaten schössen lieber, als daß sie sich auf den Leib gingen. Jedenfalls war die Bewegung unaufhaltsam. Domenico Moro, der 1570 Ottavio Farnese ein Buch widmete, nahm in diesem so zu sagen, die Zukunft vorweg, indem er die Pikeniere auf ein Drittel herabsetzte und beide Waffen in selbständigen Abteilungen zu je 6 Gliedern nebeneinander ordnete182.

Der Schütze des Altertums wie des Mittelalters ist seiner Natur nach Plänkler. Die disziplinierten englischen Bogner und die Janitscharen haben es bereits zu einem Massenfeuer gebracht, das über das Plänkeln hinausgeht, aber eine organische Fortbildung dieser Leistungen ist nicht erfolgt: dazu war die Wirkung des Bogens doch nicht stark genug. Auch die neue Feuerwaffe erlaubt zunächst und auf lange Zeit nur eine verstärkte Plänklerwirkung.[171] So wirksam der Schuß aus der Arkebuse und noch mehr der Muskete war, wenn er traf – er war doch zu unsicher und gebrauchte zu viel Zeit, als daß der einzelne Schütze dem Reiter, dem Hellebardier oder dem Pikenier gewachsen gewesen wäre, wenn er nicht irgend eine Deckung hatte. Wie war diese Deckung zu beschaffen?

Das nächste Hilfsmittel ist die Unterstützung der Schützen untereinander. Schon 1477 schrieb Albrecht Achill in seiner Anweisung für den Feldzug gegen Hans von Sagan den Büchsenschützen vor, daß die Haufen abwechselnd schießen sollten, damit immer ein Teil schußbereit sei, dasselbe meldete im Jahre 1507 als Gewohnheit der Deutschen ein venetianischer Gesandter nach Hause183 und als im Jahre 1516 der Kardinal Ximenez in Spanien eine Miliz einrichtete, wurde vorgeschrieben, daß Sonntags eine Übung »in der Ordonnanz und in Caracole« stattfinden solle184, d.h. eine Feuerordnung, bei der immer der Schütze, der gefeuert hat, hinter die anderen tritt, um wieder zu laden, und so im Kreise fort.

In der Schlacht bei Marignano 1515 unterhielten die Schützen des Königs von Jovius185 mit großem Erfolg ein solches »Schneckenfeuer« aus der Deckung gegen die Schweizer. 1532 wurde von den Spaniern auf der Parade bei Wien186, 1551 bei einer Parade vor dem Herzog von Nevers, Gouverneur der Champagne, nach der Erzählung eines Augenzeugen, Rabutin, mehrmals bei Schnecke (le limaçon) ausgeführt187.

Aber selbst ein derartig geordnetes Feuer genügte doch nicht, damit Schützen es im freien Felde gegen feindliche Reiter oder auch nur Fußknechte mit blanker Waffe hätten aufnehmen können. Die Ordnung des Feuers in der Caracole war im Ernstfall doch[172] nur schwer aufrecht zu erhalten, und wir hören als Volksmeinung, die Schützen meinten, wenn es nur knalle, so werde das den Feind schon abschrecken, und die hinteren Glieder, statt abzuwarten, daß sie nach vorn kommen und richtig zielen konnten, feuerten in die Luft188.

Geschlossene Infanterie, sagt de la Noue189, kann ansprengender Reiterei nur mit der Pike widerstehn; »car l'harquebuserie sans couverture se renverse aisément«. Wohl kommen Fälle vor, wo die Schützen sehr kühn gegen Reiter vorgehen, z.B. bei der Verfolgung des französischen Heeres durch Pescara im Jahre 1524, wo Bayard, von einer Musketenkugel niedergestreckt fiel190, oder daß sie sich selbständig feindlicher Reiter erwehrten, wie es im Schmalkaldischen Kriege einmal Avila erzählt191. Aber das sind doch nur Ausnahmefälle. Generell müssen die Schützen noch eine Anlehnung an eine der anderen Waffen haben. Entweder die Reiter gingen vor und wehrten den Feind ab192, oder die Schützen drückten sich unter die Spießer der Gewalthaufen, indem sie sie umsäumten, entweder von Anfang an oder indem die kleinen Haufen, die die Schnecke bilden sollten, als »Flügel« oder »Ärmel«193 an die Gewalthaufen an gehängt wurden und sich, falls sie mit ihrem Feuer den Feind nicht abwehren konnten, zu den Spießen flüchteten194.[173]

In einem gewissen Widerspruch zu dieser einmütigen Auffassung von Praxis und Theorie des 16. und auch noch der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, daß die Feuerwaffe sich nicht selbständig behaupten könne, sondern eine Anlehnung und eines Schutzes bedürfe, steht die Tatsache, daß die Türken keine Pikeniere hatten, sondern nur Reiter und Schützen, die Janitscharen, die vom Bogen zur Muskete übergegangen waren. Trotzdem sind die Türken derart überlegen, daß sie Ungarn erobern und 1529 vor Wien erscheinen. Zu einer großen Entscheidungsschlacht ist es aber, nachdem sie 1526 bei Mohacz einen leichten Sieg über die Ungarn gewonnen hatten, in dieser Periode niemals gekommen195. Die Türken wichen ihr aus, und die kaiserlichen und Reichsheere waren nicht dauerhaft genug, sie zu erzwingen. Die Kriege verliefen in Belagerungen, Erstürmung von Schlössern, Verwüstungen. Hundert Jahre lang, von 1568 bis 1664 waren der Kaiser und der Sultan, mit Ausnahme eines Krieges, 1593 bis 1606, in Frieden miteinander. 1578 bis 1639, also noch während der Hauptzeit des Dreißigjährigen Krieges, waren die Türken in heftige Kämpfe mit den Persern verwickelt. Als 1664 die neue Kriegsperiode zwischen den Türken und Deutschen begann, waren die Pikenier-Bataillone bereits nahe am Verschwinden.

Aber kehren wir zum 16. Jahrhundert und dem Problem des Verhältnisses der Schützen und Pikeniere zurück. Die Zahl der Schützen, die sich unter die Spieße eines großen Pikenierhaufens'[174] ducken kann, ist naturgemäß sehr beschränkt. Ein Manns-Viereck von 10000 Mann hat ja nur eine Front von 100 Mann; selbst wenn sich auf allen vier Seiten je zwei Glieder Schützen unter die Spieße ducken, so sind es immer erst 800, die untergebracht sind. Spanische Theoretiker lassen bis zu fünf Gliedern unterkriechen; auch das gäbe erst 2000 und wird wohl schon große Schwierigkeiten gemacht haben. Wir hören von einem Gefecht, wo die Musketiere sich nach dem Feuern unter die Spieße drängten, diese dadurch in die Höhe gingen und den feindlichen Reitern ermöglichten, einzudringen, so daß der ganze Haufe gesprengt und massakriert wurde196.

Eine gewisse Abhülfe brachte es, daß die Spießerhaufen zahlreicher und kleiner gemacht wurden. Die Verkleinerung der Spießerhaufen ergab sich naturgemäß, einmal, um in der Umkleidung mehr Schützen unterbringen zu können, dann aber auch, um der ja ebenfalls dauernd vermehrten und verbesserten Artillerie weniger große Treff-Objekte zu bieten197. Da aber die Zahl immer klein blieb, und auf diese Weise immer nur einer mäßigen Zahl Deckung gewährt werden konnte, so konnte die Methode je länger je weniger als angemessen gelten.

Die Theoretiker erfanden Kreuz-Aufstellungen, hohle Vierecke, Achtecke und dergleichen, alles um der Schützendeckung willen, aber alles natürlich praktisch nicht verwendbar198. Die Gefechtsform der Infanterie bleibt eine kleine Zahl von quadratischen Haufen, und es erhebt sich damit die Frage, wie diese Haufen, die von den Spaniern »Terzio« genannt werden199, zu einander zu ordnen seien. Schon von den drei Schweizerhaufen hatte ja Machiavelli als besondere Feinheit gerühmt, daß sie[175] weder neben- noch hintereinander, sondern staffelförmig aufgestellt seien. Das war eine doktrinäre Ausmalung ohne inneren Wert: Zahl, Aufstellung und Vorgehen der schweizerischen Haufen hing ganz und gar von den jeweiligen Umständen und Geländeverhältnissen ab. Bei Bicocca setzte sich der zweite schweizerische Haufe, da keine Möglichkeit zu einer Flankenbewegung war, sofort neben den ersten, »den kein huf der hinderst volt sin« (Anshelm).

Bei einer größeren Zahl von Haufen aber, wenn sie etwa in einer Ebene aufgestellt wurden, um den Feind zur Schlacht entgegenzurücken oder seinen Angriff zu erwarten, mußte man sich fragen, ob sie einfach nebeneinander oder anders wie zu ordnen seien. Die einfache Nebeneinanderstellung hätte ein gleichmäßiges Zusammenwirken aller Kräfte verbürgt und sich dem Wesen einer antiken Legionen-Phalanx genähert. Aber ein ganz gleichmäßiges Vorrücken einer solchen Front ist, wie wir wollen, sehr schwer, und hier kommt noch in Betracht, daß ja die Gevierthaufen nicht bloß die Aufgabe des Angriffs, sondern auch sehr wesentlich die der Deckung für die so zahlreichen und von weit her wirkenden Schützen hatten. Da haben denn die Spanier, die in dieser Epoche in der Kunst der Taktik die führenden sind, es für richtig befunden, die Haufen in ziemlich weiter Entfernung von einander schachbrettförmig, in zwei oder drei Linien aufzustellen. Diese Linien als Treffen zu bezeichnen, halte ich nicht für richtig. Rüstow hat dafür den Namen die »spanische Brigade« gebraucht, der aber nicht quellenmäßig, sondern von ihm selbst geprägt worden ist. Die vordersten Haufen sind in ihrer quadratischen Form und erheblichen Stärke imstande, jeden Kampf aufzunehmen, aber natürlich zu schwach, um ihn durchzuführen. Dazu müssen auch die hinteren heran, und sie können das von hinten her besser, als wenn sie von vorn herein mit in der vorderen Linie stünden; sie richten sich dann auf den Punkt, wo ihre Hilfe am nötigsten ist, ihr Angriff nach Gelände und Verhalten des Feindes am wirksamsten zu werden verspricht. Dabei kommen dann die verschiedenen Haufen sehr bald in dieselbe Front. Es ist also die Aufstellung in der »spanischen Brigade« nicht etwa eine Form, die während des Gefechts beizubehalten und überhaupt nichts Wesentliches, sondern[176] bedeutet nur, daß die Gevierthaufen sich jeder möglichst selbständig bewegen, sich dem Gelände und den Umständen anpassen und sich gegenseitig sekundieren.

Die Zerteilung der ursprünglichen Riesenhaufen der Infanterie warf auch von neuem die Frage auf, wie Fußvolk und Reiter gegeneinander zu werten seien. Die alten Gewalthaufen hatten sowohl in der Verteidigung die Ritter abgewehrt, wie im Angriff sie überrannt. Konnten das auch Haufen wie die Terzios? Lipsius stellt fest, bei den Römern sei es selten geschehen, daß Infanterie von Reitern gesprengt worden sei, zu seiner Zeit aber geschehe es häufig, und de la Noue gibt das ebenfalls als die vorherrschende Meinung an, beruft sich aber ebenfalls auf die Römer und führt zwei Beispiele von Spaniern seiner Zeit an, um zu beweisen, daß geschlossene Infanterie imstande sei, sich gegen eine überlegene Reiterei zu halten; mit der gegenwärtigen französischen Infanterie würde man es freilich nicht darauf ankommen lassen dürfen, denn die habe weder Spieße noch Disziplin200.

Dadurch, daß die Reiter mehr und mehr zur Feuerwaffe übergehen und umgekehrt die Spießer sich in steigendem Maße mit Schützen verbinden, verliert die Frage, wie auch Lipsius schon sieht, ihre praktische Bedeutung – oder vielmehr, sie bleibt, aber nimmt eine andere Form an.

Indem die Ritter Kavallerie werden, werden sie taktisch führbar. Neben die Aufgabe, Infanterie zu sprengen und niederzureiten, tritt die andere, sie durch Angriff von zwei Seiten bewegungsunfähig zu machen. Wir werden noch davon hören. Davila in seiner Geschichte der Hugenottenkriege (B. XI, Kap. 3) erzählt gelegentlich der Schlacht bei Ivry (1590), daß Heinrich IV. seine Kavallerie in kleinere Eskadrons geteilt habe, damit sie die Landsknechte von allen Seiten angreifen könnten.[177]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 4, S. 170-178.
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