1. Die Fastenrolle oder das Megillat-Ta anit als authentische Geschichtsquelle.

[559] Geschichtskundige haben es oft bedauert, daß wir für die makkabäische und nachmakkabäische Zeit nur auf das erste und zweite Makkabäerbuch und auf Josephus angewiesen sind und keine anderweitige Quelle besitzen, die von diesen berichteten Tatsachen durch Vergleichung zu prüfen. Noch mehr, man kann eigentlich nur von einer einzigen Quelle sprechen; denn so weit das I. Makkabäerbuch reicht, kopiert es Josephus in den Altertümern, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen, und erst mit Simons Tod beginnt seine Selbständigkeit. Man gewahrt ferner nicht bloß in Josephus' Altertümern, sondern auch im I. Makkabäerbuche, daß ihnen ältere Urkunden zu Grunde liegen. Durch welches Medium sind diese Urkunden gegangen? Sind sie unverfälscht wiedergegeben? Stehen wir auf sicherem Boden, wenn wir uns diesen Quellen anvertrauen? So lange die Gewißheit der Tatsachen nur auf diesem einzigen Zeugen beruht, beschleicht den Forscher hin und wieder der Argwohn, ob der Tatbestand und die pragmatische Verknüpfung nicht am Ende die Spiegelung der Subjektivität ist, der die Basis des Faktischen fehlt. Dazu kommt noch ein anderes Bedenken. Das Parteiwesen spielt bekanntlich in der nachmakkabäischen Zeit eine durchgreifende Rolle. Es stehen sich gegenüber Aßidäer und Hellenisten, Pharisäer und Sadduzäer, Nationale und Herodianer, Zeloten und Römlinge. Ist die Darstellung, wenn auch nicht sagenhaften Ursprunges, so doch vielleicht entstellt, ein Reflex der Parteianschauung? Und selbst wenn man sich solcher Bedenklichkeiten entschlüge, wäre es nicht wünschenswert, neben der einen Geschichtsquelle eine andere zu besitzen, welche als Korrektiv dienen könnte? Glücklicherweise besitzen wir in der Fastenchronik Megillat-Ta'anit1 eine andere von der Hauptquelle unabhängige Quelle, welche sich auf die Hauptbegebenheiten dieses Zeitraumes erstreckt, alle Zweifel niederschlägt und noch dazu eine bessere Einsicht in den inneren Gang der Ereignisse gewährt. So wichtig das Megillat-Ta'anit aber für die Geschichte dieser Zeit ist, so hat es doch im ganzen noch nicht die rechte Würdigung gefunden, weil es noch nicht hinlänglich geprüft ist. Im folgenden soll nachgewiesen werden welche reiche Ausbeute für die Geschichte diese vernachlässigte Chronik liefert2.

[559] Der Charakter dieser Quelle ist so eigentümlich, daß sie sich mit keinem einzigen historischen Schriftdenkmal vergleichen läßt und daher schwer zu benennen ist. Das Megillat-Ta'anit ist seinem Ursprunge nach ein wahrhaftes monumentum aere perennius, indem es die Zeit, die Zerstörerin der Denkmäler, gewissermaßen zur Wächterin derselben einsetzt und sie zwingt, in ihrer steten Verjüngung die historischen Erinnerungen mitzuverjüngen. Fünfunddreißig entweder die ganze Nation oder die Träger derselben betreffende, freudige Ereignisse wurden durch Gedenktage verewigt. An solchen Tagen mußte öffentliches Fasten, an einigen auch öffentliche Trauer eingestellt werden. Diese Gedenktage oder νικƞτἠρια, wie sie Josephus nennt (Altert. XII, 10,5), sind so lange gewissenhaft beobachtet worden, bis die trostlose Gegenwart den Sinn für die Vergangenheit abgestumpft hat. Die Nation selbst, welche die Taten vollbracht oder die freudigen Begebenheiten erfahren hatte, war durch die Beobachtung der Gedenktage gewissermaßen die Tradentin jener Tatsachen. Erst kurz vor der Tempelzerstörung wurden diese Gedenktage schriftlich aufgezeichnet (vergl. Note 26), und zwar aramäisch im Lapidarstil. An diesen Kern haben sich Zusätze, teils in der talmudischen, teils in der nachtalmudischen Zeit, als Erläuterungen zu dem fast rätselhaften Texte angesetzt. Diese Erläuterungen unterscheiden sich auch äußerlich durch ihre hebräische Fassung von den chaldäischen Aufschriften. Das edierte Megillat Ta'anit enthält also dreierlei Bestandteile: 1. den Text, 2. die Scholien, die zum Teil schon aus der talmudischen Zeit stammen, und 3. Glossen, welche erst in der gaonäischen Epoche hinzugekommen sein mögen. Erwähnt werden diese Sieges- oder Freuden-oder Halbfeiertage, außer im Talmud, im Buche Judith (8, 6). Judith fastete alle Tage ihrer Witwenschaft mit Ausnahme der Vorsabbattage, der Sabbate, der Neumondtage, Festeszeiten und der Freudentage des Hauses Israel (καὶ ἐνἠστευσε ... χωρὶς. ... καὶ χαρμοσυνῶν οἴκου Ἰσραἠλ). Ohne Zweifel spielt der Verfasser damit auf die Tage an, an welchen nicht gefastet werden durfte: ןוהב האנעתהל אלד אימוי.

Daß die erste Sammlung nur die Aufschriften allein enthielt, und überhaupt, daß das in den Talmuden zitierte Megillat Ta'anit nicht die gegenwärtige Gestalt hatte, dürfte jetzt als ausgemacht gelten. Die Beweise dafür liegen auf der Hand. So werden im Talmud (Ta'anit 17 b) die ersten zwei Halbfeiertage des Monats Nissan aus Megillat Ta'anit in einem Zuge zitiert, während sie in unseren Ausgaben durch eine lange Motivierung und Diskussion unterbrochen sind (c. 1). In das zweite Kapitel ist eine Kontroverse hineingekommen, die gar nicht einmal zur Motivierung dient, sondern einfach als Reminiszenz aus dem Talmud (Chullin 129 b) entlehnt ist. In c. 3 ist eine Motivierung eingeführt, die erst R. Abbahu als individuelle Meinung aufgestellt hat, daß nämlich Migdal-Schur identisch sei mit Cäsarea. Man vergleiche die talmudische Stelle (Megilla 6 a) mit der Fassung in M. T. und man wird sich überzeugen, daß die Motivierung nicht ursprünglich ist. ירסק וז רקעת ןורקע והבא 'ר רמא תוכלמ ורבגשכו םינוי ימיב העוקת דתי התיה איהש ... םודא תב רוש לדגמ תדיחא התוא ןירוק ויה םוחצנו םיאנמשח תיב. In M. T. wird diese Erklärung ohne weiteres angenommen: וכו' םודא תב ירסק וז רוש לדגמ תדיחא. In c. 5 Ende ist ein Stück aus Jerus. Baba Batra p. 17 a aufgenommen, wo es aber keineswegs als Zitat aus M. T. aufgeführt wird. In c. 6 (Anfang und Ende) sind als Motivierung Stellen aus dem Talmud zitiert, die gar nicht dazu gehören. In c. 9 bei der Chanukafeier sind einige sich widersprechende Boraithas über die Veranlassung derselben zusammengeschweißt, und das, was im Talmud [560] (Sabbat 21 b), durch die Frageformel הכונח יאמ eingeleitet, erzählt wird, ist als Motiv aufgenommen und zwar im Widerspruch mit dem folgenden Motiv. Der Schluß gehört gar nicht mehr zum Thema. In c. 11 oder 12 (Cod. Halberstam) kommt eine ganze Boraitha vor über die Unterschiede zwischen den Halbfeiertagen und den Hauptfesttagen. In c. 12 Anfang macht sich der spätere Zusatz schon durch die Ausdrucksweise kenntlich. Es wird nämlich die Bemerkung eingeflochten, daß die Reihenfolge der namhaft gemachten Gedenktage nicht eine chronologische sei, sondern daß in jedem Monate die wichtigen Tage an einander gereiht worden, ohne daß damit gesagt sei, daß der früher erwähnte auch wirklich dem später erwähnten chronologisch vorangegangen sei. לכ אלו ישילש ,ינש אוה ינש ,ןושאר אוה ןושאר תאזה הליגמב בותכה וב שיש לכו ןושאר שדוח םהל וספת אלא :ישילש אוה. Man übersehe nicht, daß die Fassung: םהל וספת einen Scholiasten voraussetzt. In demselben Kapitel werden die Motive zu dem Trajans- und Nikanortag so angegeben, wie sie im Talmud vorkommen, aber dort werden sie durch die Frageformel רונקנ יאמ ?סונירט יאמ? eingeleitet (Ta'anit 18 b), was wiederum voraussetzt, daß diese Motive nicht in der Sammlung des M. T. standen, welche bekanntlich in jedermanns Hand war und gleich Schriftversen zitiert wird. Als Zusätze verraten sich ferner die Erwähnung eines Amora R. Chidka, die lange Erzählung von Choni ha-Meaggel nach der Fassung der Boraitha, die ungeschickte Etymologie von Akra (ארקח) durch םיארקה3. Interessant ist, daß im Talmud (Ta'anit 12a) diskutiert wird, ob es einfach heißt: רסיי oder ולצב רסיי, während in unserer Sammlung des Megillat T. c. 12 die letzte Ansicht rezipiert ist. Außerdem begehen die Zusätze manche argen Schnitzer und machen sich durch einige stehende Redensarten, wie: הלילב אלא םויב תאצל ןילוכי ויה אלו kenntlich.

Für den geschichtlichen Zweck haben von den drei Bestandteilen unseres M. T. nur die chaldäischen Aufschriften Wert. Die Motivierungen sind nur als Scholien zu betrachten, deren Richtigkeit davon abhängt, ob sie den Sinn der Aufschrift oder des Textes treffen oder nicht. Oft ist die Motivierung des Scholions ganz verfehlt, zuweilen bringt es jedoch eine Tatsache heran, die nicht auf der Hand liegt und aus älteren Quellen geschöpft scheint. Nur wenn die Erläuterung vor der sprachlichen und sachlichen Kritik bestehen kann, verdient sie Berücksichtigung, andernfalls muß die Aufschrift selbständig erläutert werden. Die selbständige kritische Erläuterung der mißverstandenen Aufschriften zu geben, ist meine Aufgabe im folgenden, und es werden sich dabei manche interessante Ergebnisse für die nachexilische Geschichte entwickeln, welche als Ergänzung oder Berichtigung des Josephus dienen können. Um Wiederholungen zu vermeiden, folgen hier die brachylogischen Aufschriften des M. T. der Reihe nach, wie sie in der ursprünglichen Sammlung gelautet haben, die zur Zeit [561] Eleasars ben Anania ben Chiskia ben Garon angelegt wurde. (Vergl. Note 26.) Ich lege die Ed. princeps Mantua4 zugrunde.

דפסמל אלד ןוהתצקמו ןוהב האנעתהל אלד אימוי ןיליא (:ןוהב5

אדימת םקותיא היב אינמת דעו ןסינד אחרי שר ןמ (1 .ןסינ I. .דפסמל אלד

אלד איעובשד אגח בתוהיא אדעומ ףוכ דעו היב אינמתמו (2 .דפסמל

.דפסמל אלד םלשורי רוש תכונח רייאב העבשב (3 .רייא II.

.דפסמל אלד אריעז אחספ תסיכנ היב רסעבראב (4

.םילשורימ ארקח ינב וקפנ היב אתלתו ןירשעב (5

.םילשורימו הדוהימ יאלילכ וליטנתא היב העבשו ןירסעב (6

.(רוש) רוצ לדגמ תדיחא ןויסב רסעבשב (7 .ןויס III.

ןאש תיב ישנא ולג היב רסע אתישבו היב רסעשמחב (8 .אתעקב ישנאו

היב אשמחו ןירסעב (96) הדוהימ יאנסומיד וליטנתא .םילשורימו

אלד אתריזג רפס אדע זומתב רסעבראב (10 .זומת VI. דפסמל.

.דפסמל אלד אינהכ יעא ןמז באב רסעשמחב (11 .בא V.

.אננידל אנבת היב העבראו ןירסעב (12

אלד םילשורי רוש תכונח םוי לולאב העבשב (13 .לולא IV. .דפסמל

.םילשורימו הדוהימ יאמור וליטנתא היב רסעבשב (14

.אידמשמ אלטקל אנבת היב ןיתרתו ןירסעב (15

אתרכדא (תליטב) תליטנתא ירשתב אתלתב (16 .ירשת IIV. .אירטש ןמ

ןמ אגירוס רתתסא אתלתו ןירסעב (17 .ןושחרמ IIIV. .אתרזע

.ארוש ןורמוש תדיחא היב אשמחו ןירסעב (18

.אחבדמ לע קסימל אתלוס תבת היב העבשו ןירסעב (19

.אתרד ןמ אתאומיס וליטנתא ולסכב אתלתב (20 .ולסכ XI.

.בוט םוי היב העבשב (21

.דפסמל אלד םיזירג רה םוי היב דחו ןירסעב (22

.דפסמל אלד ןימוי אינמת הכונח היב אשמחו ןירסעב (23

.אניד לע אתשינכ אביתי תבטב אינמתו ןירסעב (24 .תבט X.

.דפסמל אלד בוט םוי טבשב ןיתרתב (25 .טבש IX.

האתיהל האנס רמאד אתדיבע תליטב היב ןירתו ןירסעב (26 .דפסמל אלד אלכיהל

ןמ) אכלמ סוכויטנא ליטנתא היב אינמתו ןירסעב (27 .(םילשורי

.ארטמ תעורת םוי רדאב העשתבו אינמתב (28 .רדא IIX.

.סונירוט םוי היב רסע ןירהב (29

.רונקנ םוי היב רסילתב (30

אלד ןוניא אירופ ימוי היב רסעשמחבו היב רסעבראב (31 .דפסמל

.דפסמל אלד םילשורי רוש אנבמל וירש היב רסע תישב (32

תנידמב אירפס תטילפ לע איממע ומק היב רסעבשב (33 .לארשי תיבל ןקרופ הוהו יאדבז תיבו סוקלב

.ןוהל תחנו ארטמל אמע וחצ היב ןירסעב (34

אלד יאדוהיל אבט אתרושב תתא היב אינמתו ןירסעב (35 .דפסמל אלד אתירוא ימגתפמ ןודיעי

.רסיי אנד תמדקמ יהולע יתיאד שניא לכ ןהל

Die fünfunddreißig Gedenktage können in sechs Rubriken eingeteilt werden. A. In vormakkabäische, wie die Einweihung der Mauern Jerusalems unter Nehemia; B. Hasmonäische; C. Antisadduzäische; D. Antirömische; [562] E. Solche ohne besonders bekannte oder historisch-wichtige Beziehung und F. Diasporische, d.h. solche, welche erst in der Zeit nach der Tempelzerstörung aufgekommen sind. Bei den meisten ist die Veranlassung der Halbfeier angegeben, nur bei zweien, Nr. 21 und 25, steht die kurze Formel: בוט םוי. Bei vierzehn Halbfeiertagen steht der Zusatz, daß an denselben nicht öffentliche Trauer angestellt werden dürfe, das sind die wichtigeren. Sie galten für so bedeutsam, daß sie auch den vorangehenden Tag mit in den Kreis der Halbfeier hineinziehen (nach einer Ansicht auch den nachfolgenden). Darüber wird schon in der Mischna (Ta'anit 15 b) verhandelt. Wir sind dadurch in den Stand gesetzt, zu beurteilen, welchen Ereignissen eine höhere Wichtigkeit beigelegt wurde.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 559-563.
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