V. Matthia b. Theophil II.

[752] In der talmudischen Tradition wird noch von einem anonymen Hohenpriester eine Äußerung überliefert, für welche sich der historische Hintergrund ermitteln läßt. Jeder Hohepriester pflegte bei der Darbringung des Räucherwerkes im Allerheiligsten am Versöhnungstage ein Gebet zu sprechen. Dieses Gebet sollte nur kurz gehalten sein, um die im Tempel harrende Menge nicht zu erschrecken, daß ihm etwas zugestoßen sei, weil er länger bei der Funktion weile156. Dabei erzählen die Tosefta und auch die beiden Talmude: Ein Hoherpriester habe einst länger als gewöhnlich im Allerheiligsten dabei verweilt, und habe, als er deswegen interpelliert worden, erwidert: »Ich habe für euren Tempel gebetet, daß er nicht zerstört werde«157. Diesen Ausdruck muß man befremdlich finden. Warum denn nur »für euren Tempel«? War das Heiligtum nicht eben so gut das seinige, wie das des ganzen Volkes? Man wird schwerlich in der einschlägigen Literatur eine Analogie zu dieser kühlen Ausdrucksweise finden. Und überhaupt, wie kam denn dieser Hohepriester darauf, für die Unverletzlichkeit des Tempels zu beten? Es muß also damals die Gefahr für den Untergang des Heiligtums nahe gewesen sein. Das führt uns in die Zeit des Krieges gegen die Römer. Die Friedensfreunde haben von Anfang an gegen die Revolution und den Krieg geltend gemacht, daß der Bestand des Tempels auf dem Spiele stehe. Der vorletzte Hohepriester Matthia, Sohn Theophils II. (aus der Familie Boëthos), gehörte zu den Römerfreunden. Er wurde während des Terrorismus, welcher sich in Jerusalem seit dem Fall der galiläischen Festungen und Josephus' Übergange zu den Römern gegen alle Lauen richtete, abgesetzt (Jos. j. Kr. III, 3, 7 vergl. o. S. 736). Einer seiner Söhne war zu den Römern entflohen. Später fädelte er noch mit anderen hohenpriesterlichen Aristokraten die Intrigue ein, den wilden Simon bar Giora nach Jerusalem einzuladen, um ihn gegen die Zeloten aufzustacheln, und durch das Übermaß der Anarchie und der Zwietracht eine Gegenrevolution herbeizuführen und den Römern die Tore zu öffnen. Matthia wurde nicht lange [752] darauf blutig dafür bestraft von demselben Simon, den er herbeigerufen hatte (das. IV, 9, 11; V, 13, 1). Matthia war also gewiß ein Feind der Zeloten und der vielen Priester, welche zu ihnen gehörten. Im Herbste 67 war er noch Hoherpriester und fungierte als solcher am Versöhnungstage. Nun denke man sich die Situation. Die Spannung ist in dem Jahre, in welchem Galiläa nach dem verzweifelten Kampf erobert war, hochgradig, noch viel mehr als früher. Auch der geringste von der täglichen Ordnung abweichende Vorgang wirkte aufregend. Nun bleibt noch gar der Hohepriester lange, viel zu lange, im Allerheiligsten. Was mag darin vorgehen? Die Priester beschließen, wenn auch widergesetzlich, ins Allerheiligste zu dringen, um nachzusehen, was mit dem Hohenpriester geschehen sein mag. Sie treffen ihn beim Heraustreten und fragen ihn hastig, warum er denn so lange im Allerheiligsten zugebracht: »Ich habe für die Erhaltung eures Tempels gebetet. Ist das euch so unangenehm?« (םכיניעב השק). Aus dem Munde des Hohenpriesters, welcher zu dieser Zeit fungiert hat, ist die Wendung höchst angemessen; sie hat eine Spitze und will sagen: »Durch euer Treiben müßte der Tempel unfehlbar untergehen. Ich habe daher Gott inbrünstig angefleht, daß er diese so nahe Katastrophe abwenden möge« Ein früher lebender Hoherpriester und noch weniger Simon der Gerechte (auf den die eingeklammerten Worte in Jerusch. hinweisen) hätte keine Veranlassung gehabt, an den Untergang des Tempels zu denken oder sich so auszudrücken: »für euren Tempel.« Man kann daher mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die talmudische Relation von dem Hohenpriester, der länger als gewöhnlich im Allerheiligsten am Versöhnungstage geweilt und eine so spitzige Antwort erteilt hat, sich auf den vorletzten, zur Zeit der Revolution fungierenden Hohenpriester Matthia, Sohn Theophils, bezieht. Nicht lange darauf wurde dieser Hohepriester wie gesagt von dem Priesterkollegium wegen seiner zelotenfeindlichen Gesinnung abgesetzt und an seiner Stelle der letzte Hohepriester Pinehas, Sohn des Samuel aus Aphta, ernannt.


Reihenfolge und Chronologie der Wahl-Hohenpriester.
Reihenfolge und Chronologie der Wahl-Hohenpriester.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 752-755.
Lizenz:
Faksimiles:
752 | 753 | 754 | 755
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon