Materielle Kultur. Literatur und Wissenschaft

[160] 225. Die Steigerung der materiellen Kultur unter den Thiniten ist uns schon in der Entwicklung der Kunst, in dem ersten Auftauchen des Steinbaus, in der Verfeinerung von Tracht und Sitte entgegengetreten. Die Technik der Steingefäße erreicht ihre höchste Blüte, während eben darum die billige Ware, die Tongefäße, einfach und schmucklos wird und ihre Technik degeneriert. Ganz allmählich beginnt dann das Metall neben das ältere Material zu treten. Das Kupfer, früher nur selten verwendet, findet größere Verbreitung, namentlich durch die Ausbeutung der Sinaiminen, und neben den alten Waffen und Gefäßen von Stein kommen langsam solche von Kupfer auf; zu voller Entwicklung gelangt es in der Blütezeit des Alten Reichs. Gold, wohl meist aus den Minen des nubischen Sandsteinplateaus bezogen, ist, wie [160] die Steuererhebung lehrt, auch im Privatbesitz weit verbreitet, in Gestalt von Schmucksachen, und das wertvollste Objekt, das man kennt. Daneben stehen als vielbegehrte Artikel zahlreiche kostbare Steine; Silber dagegen ist noch sehr selten, und Eisen (vgl. § 258 A.) scheint noch nicht vorzukommen. Der Verkehr ist durchaus Tauschverkehr; wie auf dem Markt die Waren ihrem Werte nach gegeneinander abgeschätzt und ausgetauscht werden, so werden alle Löhne, auch die Einkünfte der Hof- und Staatsbeamten, in Naturalien gezahlt, vor allem in Lebensmitteln »von der Tafel des Königs«, dazu in Kleidung, Schmucksachen, Vieh, Sklaven, Grundbesitz. Doch hat sich offenbar schon eine Abschätzung des Wertes nach Gewichtsstücken von Edelmetall herausgebildet, wie eben die Besteuerung des Goldes zeigt. Für den gewöhnlichen Verkehr wird man auch damals schon nach Kupfer- und Goldgewichten gerechnet haben; im Alten Reich ist das Metall zu dem Zweck in Ringform gegossen, und zahlreiche, freilich sehr ungenügend adjustierte Steingewichte (von 3, 4, 6, 50 »Ringen«) dienen sie zu wägen. Die Einheit für den »Ring« scheint ein Gewicht von ungefähr 15 Gramm gewesen zu sein.


Für das langsame Aufkommen des Kupfers sind die Funde von Ṭura (§ 206 A.) charakteristisch; s. JUNKER S. 54ff. Über den Tauschverkehr auf dem Markt vgl. z.B. ERMAN, Aegypten 654f. Über die Gewichte für Geldringe SCHÄFER, ÄZ. 43, 70f.; GRIFFITH, PSBA. 14, 442ff. 15, 303f. WEIGALL ib. 23, 378ff. BORCHARDT, Grabdenkmal des Nefererkere' S. 69. – Nach DE MORGAN kommt Zinnbeimischung im Kupfer schon im Alten Reich vor; woher das Zinn stammt, ist gänzlich unbekannt. – Die Schriftzeichen für Silber stehen über einer Barke auf einer Steinschale der Thinitenzeit: Abydos II 12, 27 g. Daß die Bezeichnung der Schatzhäuser als »weiße Häuser« (R. T. I 22, 35f. und oft) nicht durch »Silberhäuser « zu übersetzen ist, sondern von der Nationalfarbe des Südreichs entlehnt ist, in Parallele zu dem »roten Hause« des Nordreichs (R. T. II 23, 191. 192. 196. 24, 206. Bet Khallaf 9, 6), bemerkt SETHE, Beitr. zur ältesten Geschichte 126f. mit Recht. – Über die nubischen Goldminen s. SCHWEINFURTH, Ann. du service IV, 268ff. Schöne Goldsachen der Thinitenzeit sind in Naga ed Der (§ 169 A.) gefunden.


[161] 226. Zu den technischen Errungenschaften der ältesten Zeit gehören auch die praktischen Wissenschaften. Wie alt die Regulierung des Kalenders ist, haben wir schon gesehen; mit ihr hängt die Orientierung am Himmel zusammen, die Benennung der größeren Sternbilder, die Scheidung der Fixsterne in solche, die »nicht vergehen« (die Circumpolarsterne), und solche, die »nicht bleiben«, die Benennung der Planeten u.a. Aber weiter entwickelt, nach babylonischer Art, sind diese Vorstellungen nicht; die Sterne spielen zwar in den Pyramidentexten für die Wandlungen der in ihnen erscheinenden Geister der verstorbenen Könige eine bedeutende Rolle (§ 204), aber für Religion und Kultus haben sie keine, für das Weltbild nur geringe Bedeutung: eigentlicher Sterndienst, Astrologie und Astronomie sind den Aegyptern gänzlich fremd. – Stärker entwickelt sind die Künste des Rechnens und des Feldmessens, die von den heranwachsenden Beamten in den Schreiberschulen gelernt werden mußten und deren Lehren jedenfalls schon früh in praktischen Lehrbüchern, die die Elemente der angewandten Mathematik enthielten, zusammengestellt worden sind. Weit bedeutender sind seit alters die Leistungen der Aegypter in der Heilkunde. Der Aerzteberuf ist, im Anschluß an die Tempel, sehr früh entwickelt, und hat ein reiches Material an praktischen Erfahrungen über Behandlung äußerer und innerer Krankheiten, Heilmittel und Operationen gesammelt. An Zaubermitteln und magischen Sprüchen oft seltsamster Art fehlt es freilich nicht; aber es überwiegt doch durchaus eine wirklich gesunde Empirie. Auch anatomische Kenntnisse haben die aegyptischen Aerzte in ziemlich bedeutendem Umfang besessen. Wenn in den erhaltenen medizinischen Werken einzelne Rezepte und größere Abschnitte mehrfach auf die ältesten Könige, Usaphais, Senṭi, Cheops, zurückgeführt werden-auch die manethonische Überlieferung weiß davon bei Atoti I. und Ẕoser –, so ist das jedenfalls dem Kern nach richtig, wie ebensowohl die archaische Sprache mancher Stücke, wie die angesehene Stellung beweist, welche die Aerzte am Hofe des Alten Reichs eingenommen[162] haben. Auf diese ältesten Könige wird auch die Auffindung mancher zauberkräftiger Totentexte zurückgeführt, ebenso in der Spätzeit die von Tempelplänen; und zweifellos ist, daß wie der Hauptteil der uns erhaltenen Pyramidentexte, so auch viele Sagen, Hymnen und Rituale in dieser Zeit schriftlich aufgezeichnet sind. – Eins aber fehlt dieser wie aller wissenschaftlichen Literatur der Aegypter: jegliches theoretische Interesse. Die praktische Aufgabe dominiert ausschließlich; ein Problem um seiner selbst willen zu untersuchen, ist ihnen nicht in den Sinn gekommen, und wo sie sich einmal zur Spekulation erheben, bewegt diese sich immer in den Formen eines theologischen Mystizismus.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 160-163.
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