Chronologie

[355] 323. Das babylonische Jahr ist ein Mondjahr von 12 Monaten, das mit dem Sonnenjahr oder vielmehr mit dem Stand der Jahreszeiten und der Feldarbeiten je nach Bedürfnis durch Einschaltung eines Monats ausgeglichen wird. Der Monat beginnt mit dem Abend, an dem die neue Mondsichel zuerst wieder erblickt wird, und hat daher bald 29, bald 30 Tage. In der älteren Zeit scheint jede bedeutendere Stadt ihren eigenen Kalender gehabt zu haben, und wir finden daher in den Urkunden sehr verschiedene Monatsnamen in Gebrauch, die, soweit sie verständlich sind, zum Teil nach Götterfesten, zum Teil nach der Feldarbeit und Naturereignissen benannt sind. Seit der ersten Dynastie von Babel gewinnt dann ein Kalender allgemeine Geltung, der unter dem Reich von Sumer und Akkad schon in den Urkunden aus Nippur gebräuchlich ist; die übrigen Monatsnamen verschwinden allmählich, und in der Folgezeit herrscht dieser Kalender nicht nur in Babylonien und Assyrien allgemein, sondern ist auch in die westsemitische Welt eingedrungen und vom Perserreich [355] rezipiert worden; die Juden verwenden ihn bis auf den heutigen Tag. Er beginnt nach dem Frühjahrsaequinoctium mit dem 1. Nisan; der Jahresanfang der älteren Kalender ist dagegen mit Sicherheit noch nicht ermittelt. Seit der Perserzeit hat man dann auch begonnen, an Stelle der lediglich nach praktischen Bedürfnissen vorgenommenen Einfügung eines Schaltmonats nach dem 6. oder 12. Monat (Elul und Adar) eine feste Schaltregel einzuführen. – In den Staaten von Sinear erhielt, wie im ältesten Aegypten, das Jahr einen Eigennamen nach einem Ereignis, und von diesem aus wurde manchmal mehrere Jahre hindurch weitergezählt, bis ein neuer Jahrname eingeführt wurde. Auch Benennung des Jahres nach wechselnden Jahrbeamten findet sich in der ältesten Zeit mehrfach (§ 377). Dagegen wird nach Jahren von Königen oder Patesis nur ganz vereinzelt (in Lagaš § 388f.) gerechnet; wohl aber wird das erste Jahr einer neuen Regierung als »Jahr in dem N. König (oder pa tesi) wurde« bezeichnet. Dies ist schon damals das erste Jahr nach der Thronbesteigung gewesen, die Bezeichnung also postdatierend, was bei einer solchen Benennungsart, bei der der einmal eingeführte Jahrname nachträglich nicht mehr geändert werden konnte, durchaus begreiflich ist. In den vielfach erhaltenen Listen der Jahrnamen wurden dann die Jahre jeder Regierung zusammengefaßt und die Summe verzeichnet, aber immer nur in vollen Jahren, ohne überschüssige Monate und Tage, die ja bei dieser Rechnungsweise nicht in Betracht kamen. In der Kossaeerzeit ist dann der Brauch aufgekommen, die Jahre einer jeden Regierung durchzuzählen (§ 460), aber auch hier immer postdatierend, so daß das erste Jahr eines Königs mit dem 1. Nisan nach seiner Thronbesteigung beginnt und sein letztes Jahr dasjenige ist, in dem er gestorben und sein Nachfolger zur Regierung gelangt ist-so auch im ptolemaeischen Kanon (§ 321). Die überschüssigen Monate, in denen dieser herrscht, schon vor Anfang seines »ersten Jahres«, werden in den Urkunden als »Anfang seiner Regierung« bezeichnet, da man jetzt nicht mehr gut [356] nach seinem verstorbenen Vorgänger datieren konnte. Auch bei dieser Rechnungsweise kommen daher überschüssige Monate und Tage nicht in Betracht; sie erscheinen in den Königslisten denn auch nur ganz vereinzelt und nur bei ganz kurzen Regierungen, namentlich am Ende einer Dynastie.


Die babylonisch-assyrischen Monate sind, beginnend mit dem Frühjahrsaequinoctium: Nisan, Ajar, Sivan, Dûzu (Tammuz), Ab, Ulul, Tišrit, Arachsamna [d.i. der 8. Monat], Kisliv, Tebit, Šabaṭ, Addar. Über die älteren Monatsnamen s. RADAU, Early Bab. Hist. 287ff.; THUREAU-DANGIN, Z. Ass. XV 409f. rev. d'Ass. VIII 84ff. 152ff. und sonst; GENOUILLAC, Tablettes sumériennes archaiques; KUGLER, Sternkunde und Sterndienst II 174ff., und dagegen BARTON J. Amer. orient. Soc. XXXI 1911. MYHRMANN in Bab. Exped. III 1 (1910) 45ff. Kalender der 1. Dynastie: KUGLER l.c. II 241ff.; Vorkommen der späteren Monate unter der Dynastie von Ur: MYHRMANN l.c. 47. Zum späteren Kalender z.B. auch WEISSBACH im Hilprecht Anniversary Volume. – Über die (durch einen Erlaß des Königs angeordneten) Monatsschaltungen unter Chammurapi: KING, Letters of Hammurabi III p. XXIV f. und p. 12f. Gelegentlich wird auch ein zweiter Nisan geschaltet. Über die spätere Schaltregel s. MAHLER, Z. Ass. IX und sonst (zum Teil nicht mehr haltbar), sowie Zur Chronologie der Babylonier, Denkschr. Wien. Ak. Math. Cl. LXII, 1895, mit einer Tabelle der Monatsanfänge von 747-100 v. Chr. Selbstverständlich hat man auch in Babylonien den Monat konventionell zu 30 Tagen, das Jahr zu 360 Tagen gerechnet, obwohl der Monat natürlich tatsächlich bald 29, bald 30, das Jahr 354 oder 355, das Schaltjahr 383 oder 384 Tage hatte. Das hat bei RADAU S. 303ff. die seltsamsten Hypothesen erzeugt (das Richtige bei THUREAU-DANGIN l.c.), ja WINCKLER, KAT. 329, redet ganz unbedenklich bei den Babyloniern von einem 360tägigen Sonnenjahr mit »51/4 Tagen am Schluß, den sogenannten Epagomenen, die als Festzeit galten«! Er verbindet damit das Wort chamuštu, das nur in den kappado kischen Tontafeln vorkommt, wo es vielleicht eine fünftägige Woche bezeichnet; WINCKLER hat daraus (zuerst Altorient. Forsch. II 91ff., dann oft wiederholt und weiter ausgemalt; dieselbe Vermutung bei SAYCE, PSBA. 19, 288) ein Urelement der babylonischen Zeitrechnung und der orientalischen Weltanschauung gemacht. Darauf hat dann weiter BROCKELMANN, Z. Ass. XVI 389ff. die wildesten Phantasien über den Ursprung der assyrischen Eponymen gebaut. [Über die Rolle des 5., 10., 15. cet. Monatstags im Kultus vgl. ZIMMERN, Ber. Sächs. Ges. phil. Cl. 1901, 35]. – Über die Jahrbezeichnung der ältesten Zeit vgl. PEISER, Orient. Lit.-Z. VIII 1ff. MESSERSCHMIDT ib. VIII 268ff. UNGNAD, Beitr. z. Ass. VI 3, S. I ff. KUGLER, [357] Sternkunde II 153ff., 235ff. u.a. Der Name des Jahres wird durch einen Königserlaß proklamiert, vielfach erst im Lauf des Jahres nach einem neu eingetretenen Ereignis; daher ist es nicht selten, daß dasselbe Jahr in manchen Urkunden noch als »Jahr nach dem (folgt der vorhergehende Jahresname)«, in anderen mit dem neuen Namen bezeichnet wird, z.B. das 2. Jahr Pursins: THUREAU-DANGIN, Königsinschriften S. 233, ebenso das 17. Jahr des Sinmuballit: RANKE, Orient. Lit.-Z. X 231ff. Das Jahr, in dem ein Herrscher auf den Thron kam, wird vom Tode des Vorgängers an als »Jahr, in dem N. in das Haus seines Vaters eintrat« bezeichnet: RANKE in Bab. Exped. VI 1 p. 12, 1.


324. Bei den Assyrern erhielt seit alters jedes Jahr seinen Eigennamen nach einem hohen Beamten, der das Eponymenamt (ass. limmu) bekleidet (§ 432 a); auch der König übernimmt diese Würde, gewöhnlich in seinem ersten vollen Regierungsjahr, doch oft auch erst im zweiten oder noch später. Nach Regierungsjahren (palû) wird daher hier nur ganz vereinzelt in der letzten Zeit des Reichs datiert; in den Königsinschriften werden sie dagegen meist durchgezählt (dem ersten Jahr geht auch hier der »Anfang des Königtums« voran); danebenkommt mehrfach die Zählung nach Feldzügen (girru) vor, wie bei den Pharaonen des Neuen Reichs. Mehrere Verzeichnisse der Eponymen sind uns erhalten, die insgesamt die Jahre 893 bis 666 v. Chr. umfassen; aus der vorhergehenden und folgenden Zeit sind uns nur vereinzelte Namen und Namengruppen erhalten. Mehrfach sind diese Listen mit kurzen Beischriften über Thronwechsel und wichtige Ereignisse versehen, bilden also ein Gerippe von Annalen. Dadurch, daß dabei die Sonnenfinsternis vom 15. Juni 763 v. Chr. erwähnt ist, ist die Liste chronologisch genau festgelegt; die dadurch gewonnenen Daten stimmen mit denen des ptolemaeischen Kanons (§ 321) vollständig überein und werden überdies durch die zahlreichen Daten der aus den folgenden Jahrhunderten bis tief in die Perserzeit hinein erhaltenen Privaturkunden durchweg bestätigt. Somit ruht die Chronologie der assyrischen und babylonischen Geschichte vom Beginn des neunten Jahrhunderts an auf völlig gesicherter Grundlage und ist bis in die Einzelheiten hinein genau bekannt.


[358] Die Eponymenlisten, zuerst von H. RAWLINSON entdeckt, sind II R. 42. 68. 69. III R. 1 (ein weiteres Stück BEZOLD, PSBA. 1889, 286ff.) publiziert (ferner DELITZSCH, Assyr. Lesestücke 2. Aufl. S. 78ff. G. SMITH, Ass. eponym Canon, 1876); in Umschrift SCHRADER, KAT. 2 470ff. und Keilinschr. Bibl. I 204ff. (dazu III 2, 142ff.). – Die Urkunden der Zeit des chaldaeischen und persischen Reichs sind von STRASSMAIER in verschiedenen Werken publiziert, s. die Zusammenstellung in meinen Forsch. II 463ff. Ferner jetzt CLAY, Bab. Exped. VIII-X. Vorderasiatische Schriftdenkm. III-VI.


325. Im Gegensatz zu dieser vollkommenen Sicherheit der späteren Zeit bietet die Chronologie des zweiten und dritten Jahrtausends auch jetzt noch große Schwierigkeiten. Wenigstens eine feste Grundlage haben wir seit 1884 gewonnen in einer Tontafel aus Babylon (Königsliste A), die in vier Kolumnen eine vollständige Liste der babylonischen Könige von der Begründung des amoritischen Reichs von Babel bis mindestens zum Beginn der Chaldaeerzeit enthielt. Aber von dem oberen Teil der Tafel sind durchweg 11 Zeilen und mehrere auch am unteren Ende verloren, und die Lücken lassen sich bisher durch das für das zweite Jahrtausend und den Beginn des ersten noch immer äußerst dürftige Material, das wir sonst besitzen, nur in wenigen Fällen ergänzen. Auch die erhaltenen Bruchstücke babylonischer Chroniken (§ 318) bringen hier nur wenig Hilfe; nur für die beiden ersten Dynastien gibt eine andere Tafel (Königsliste B) das vollständige Verzeichnis der Könige. Immerhin sind wenigstens die Dynastiensummen bis auf eine erhalten, und auch die Zahl der Zeilen, welche die vollständige Tafel umfaßt hat, läßt sich für alle vier Kolumnen mit Sicherheit ermitteln. Somit ist uns hier ein fester Rahmen gegeben. Die Dynastien werden auf der Tafel lediglich nach ihrer Herkunft bezeichnet; es ist indessen der Übersichtlichkeit wegen ratsam, sie durchzuzählen. Das Schema ist:


Chronologie

[359] Wie man sieht, fehlt nur die Summe der achten Dynastie; wäre sie erhalten, so würden wir ein chronologisches Schema besitzen, das wenigstens bis zum Beginn der dritten Dynastie hinauf als im wesentlichen zuverlässig gelten könnte, wenn auch kleine Versehen und Irrtümer unzweifelhaft vorgekommen sind und sich vereinzelt schon durch datierte Urkunden ergeben haben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 355-360.
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