Die Kunst. Verhältnis der sumerischen Kultur zur aegyptischen

[472] 379. Die Entwicklung der bildenden Kunst knüpft in Sinear an an die Votivreliefs auf Kalksteintafeln und die Statuen von Stein, die in die Tempel geweiht werden (§ 367); auch kleine Götterfiguren von Ton hat man schon früh angefertigt. Die Umrißzeichnungen und Reliefs auf den ältesten auf uns gekommenen Votivtafeln aus Nippur und Lagaš gehören zu dem Unbeholfensten und Formlosesten, was wir kennen; [472] man kann sich schwer ein vorausliegendes noch primitiveres Stadium vorstellen, das doch schon auf den Namen einer Kultur Anspruch erheben könnte. Überhaupt ist, im Gegensatz zu den Aegyptern, die künstlerische Begabung der Sumerer immer gering geblieben; die semitischen Akkadier haben sie alsbald weitaus überholt. So stehen denn auch diese ältesten Kunsterzeugnisse tief unter den Darstellungen auf den Schminktafeln der Zeit der Horusverehrer, denen sich erst etwa die Geierstele Eannatums vergleichen läßt; und Seitenstücke zu der Tafel Narmers und vollends den Schöpfungen der Thiniten haben die Sumerer erst aufzuweisen, als sie unter dem Einfluß der weit fortgeschrittenen Kunst Sargons und Naramsins stehen. Die Schriftzeichen setzen aber die Zeichnungen der ältesten, rohesten Kunst voraus; somit ist die Schrift bei den Sumerern in einem wesentlich früheren Stadium der Kulturentwicklung entstanden als bei den Aegyptern. Zeitlich dagegen ist sie um mehrere Jahrhunderte jünger; die ältesten erhaltenen Schriftdenkmäler aus Sinear gehören frühestens dem letzten Jahrhundert vor 3000 v. Chr. an, als in Aegypten unter den Thiniten die Schrift schon Jahrhunderte lang in Übung gestanden hatte. – Die Frage, ob zwischen der aegyptischen und der sumerischen Hieroglyphenschrift ein geschichtlicher Zusammenhang besteht, ist viel verhandelt worden. Die Übereinstimmung in manchen Äußerlichkeiten, so in der Richtung und gelegentlich auch in der Gestalt der Zeichen, kann nicht viel beweisen; eine definitive Entscheidung würde eine eingehende Analyse der ältesten sumerischen Schriftzeichen voraussetzen, die noch nicht unternommen ist. Gegen einen Zusammenhang spricht, daß den zwischenliegenden syrischen Gebieten die Schrift und überhaupt eine höhere Kultur im dritten Jahrtausend noch völlig fremd ist. So dürfte es sich wohl nur um eine Parallelität der Entwicklung handeln, die aus gleichen Anlässen erwachsen ist und daher auch manche gleichartige Gebilde geschaffen hat. Das gleiche wird z.B. von der Ähnlichkeit der Fabeltiere und symmetrisch angeordneten [473] Gestalten der aegyptischen Schminktafeln mit Erzeugnissen der sumerischen Kunst gelten (§ 200). Eher könnte der Gebrauch der Gebrauch der Siegelcylinder von Aegypten nach Sinear gekommen sein (§ 202 A.). Ob die Berührungen im Getreidebau oder die Bierbereitung (§ 229) in dem einen Lande aus dem anderen entlehnt sind, oder ein drittes Gebiet (Syrien) vermittelnd dazwischen steht, läßt sich noch nicht erkennen. Einzelne Errungenschaften, vor allem technischer Art, haben fortgeschrittene Völker garnicht selten von kulturell weit niedriger stehenden übernommen; aber wo es sich um wirklich bedeutsame Kulturelemente handelt, können, falls überhaupt Entlehnungen stattgefunden haben, entgegen der in weiten Kreisen herrschenden Meinung nur die Sumerer die Entlehnenden gewesen sein, da ihre Kultur eben durchweg viel jünger ist als die aegyptische.


Ich mache darauf aufmerksam, daß auch, wenn man Urninâ und die ältesten Denkmäler von Tello noch wesentlich früher ansetzen will, als ich für zulässig halte, etwa um 3400 v. Chr., in die Zeit der aegyptischen Schminktafeln, die damalige Kultur und Kunst Babyloniens immer noch tief unter der gleichzeitigen aegyptischen stehen würde, also von einer Abhängigkeit Aegyptens von Babylonien auch alsdann nicht die Rede sein könnte. Wer aber gar das Datum Naboneds für geschichtlich hält und daher mit den ältesten babylonischen Denkmälern bis auf 4000 v. Chr. hinaufgeht, sollte billigerweise für Aegypten die manethonischen Daten annehmen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 472-475.
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